München, eine beschauliche Wohnanlage, Menschen wie du und ich – scheinbar. Ein Ehepaar, das vorwurfsvoll nebeneinander her lebt. Ein Schauspieler, der aus seiner Serienlebensrolle geschrieben wurde und der Menschen anspricht, nur um mal wieder die eigene Stimme zu hören. Zwei Freundinnen, sympathisch und unaufdringlich, die sich als Luxusbordellbesitzerinnen entpuppen. Ein Herrenoberbekleidungsverkäufer, der sich mit seiner Einsamkeit nicht abfinden möchte und deshalb eine nicht minder verlorene 17-Jährige in seiner Wohnung festhält. In diesen seltsamen Mikrokosmos dringt Kriminalkommissar Polonius Fischer ein, selbst ein ziemlich komischer Heiliger. Vor seinen 14 Dienstjahren bei der Münchner Mordkommission lebte er im Kloster, war Mönch. Auch heute ermittelt er quasi noch mit Gott. Zu diesen Menschen, die alle etwas zu verbergen haben, verschlägt es ihn, weil sich dort in der ach so heimeligen Vorstadt innerhalb von 24 Stunden zwei Morde ereignen. Zunächst wird eine der beiden Sexclub-Betreiberinnen mit zwei Messerstichen ins Herz getötet. Ein Tag später liegt ein Stadtstreicher erschlagen im Müllhaus der Wohnanlage.
Foto: ZDF / Walter Wehner
„Gibt es Menschen und Orte, die das Verbrechen anziehen?“ Diese Frage wirft Friedrich Anis Kriminalroman „Hinter blinden Fenstern“ auf. Auch über dem gleichnamigen Film von Matti Geschonneck, für den Hannah Hollinger das Drehbuch verfasste, schwebt diese Frage, doch sie gerät weniger stark ins Bewusstsein des Zuschauers. Der ZDF-Krimi diskutiert philosophische und existenzielle Fragen am Rande. „Es geht nicht nur darum, den Mörder zu finden, sondern eine Ahnung davon zu bekommen, warum er oder sie zum Mord fähig sind, welche Energien sich da bis zur bösen Tat verdichtet haben“, sagt Hauptdarsteller Hanns Zischler, der seinen Polonius Fischer als konzentrierten Schweiger spielt. „Eine priesterliche Technik“, so Zischler, „er bringt die Anderen durch sein Schweigen zum Reden.“
Geschonneck und Hollinger gelingt eine vorbildliche Literaturverfilmung. Sie ziehen die Essenz aus Anis düsterem Vorstadtkrimi mit seinen zerrissenen, beschädigten Randfiguren, den Milieuschilderungen, den vielen kleinen Abschweifungen. Sie dramatisieren die Vorlage nicht blindlings und unterwerfen den Roman nicht zwanghaft dem amerikanischen Erzählen. Selten hörte man denn auch einen zufriedeneren verfilmten Schriftsteller: „Hier wurde ein Kriminalroman nicht fürs Fernsehen glatt gehobelt, hier verlor das Fernsehen jede Furcht vor den Ecken und Kanten einer literarischen Vorlage“, so Ani. Schade, dass das ZDF bei der Verfilmung seiner thematisch noch interessanteren Romane um „Kommissar Süden“, bei dem es durch die Vermissungsthematik weniger um Mord als vielmehr um falsch gelebtes Leben geht, nicht so viel Mut zeigte. Nach nur zwei Filmen wurde die Reihe abgesetzt.
Foto: ZDF / Walter Wehner
„Hinter blinden Fenstern“ zielt ganz auf die Möglichkeiten des Mediums. Blicke dominieren das Geschehen: der abwartende Blick (Zischler), der vermeidende Blick (Tarrach), der fasziniert interessierte Blick (Potthoff), der kontrollierende Blick (Oest), der schmerzvoll begehrliche Blick (Maranow). Das schließt nicht aus, dass einige der Figuren auch mit Blindheit geschlagen sind. Da gibt es den Mann, der alles sieht, alles weiß, was bei den Nachbarn vor sich geht, der lückenlos Buch führt, fotografiert, spioniert, aber nichts von der Affäre seiner Frau mitbekommen hat. Oder der arbeitslose Schauspieler und Bob-Dylan-Fan, der sich das Schauen verbietet, weil er befürchtet, dass ihn jener Mann aus dem Bürgerverein der „achtsamen Mitmenschen“ dabei beobachten könnte. Es ist ein Blicken, ein Lauern, ein Verstellen. Dieser Stadtteil ist ein Widerspruch in sich. Das ist ein besonderes München, ein Großstadtviertel, in dem nicht „die Errungenschaft der Anonymität“ (Zischler) gilt.
Grimme-Preisträger Matti Geschonneck („Die Nachrichten“) gönnt sich und dem Zuschauer ein langsames, konzentriertes Erzählen, das einem Zeit lässt, Zwischentöne zu erkennen. Klassische Filmdialoge im Sinne von Rede-Gegenrede werden sparsam eingesetzt. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird auch nicht unnötig mit allzu vielen Fakten des Falls strapaziert wie in herkömmlichen Ermittlerkrimis. Dafür gibt es erzählende Dialoge, in denen Menschen, die kaum noch ihre Stimme (er)kennen, aus sich herauskommen, monologisieren. Da wird der Schleier des Vergessens, des Verdrängens gelüftet und einer jener verschatteten Figuren tritt für ein, zwei Minuten aus dem Schatten seiner Einsamkeit.