Harrys Insel

Wolfgang Stumph, Katrin Sass, Justice. Kammerspiel in kanadischer Landschaft

Foto: Degeto / Chris Reardon
Foto Rainer Tittelbach

Ein deutscher Einwanderer freut sich auf die kanadische Einsamkeit, doch ein impertinentes Flintenweib lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Auch wenn es die Konstellation der Geschichte von vornherein nahelegt, dass sich hier zwei mit derselben Sehnsucht nach Selbstbestimmung finden werden – es sind vor allem die dramatischen Szenen, die die Abenteuer-Tragikomödie „Harrys Insel“ sehenswert macht. Beginnt der Film als verkappte Screwball Comedy in der Wildnis, bekommt er bald einen unerwarteten Tiefgang und dank seines spielfreudigen Duos ernsthaft berührende Momente. Stumph und Sass können gut miteinander. Ein interessanter Versuch, die Genre- & Realismus-Grenzen im TV-Unterhaltungsfilm weiter auszuloten.

Ein Ex-Knacki und ein Flintenweib in der kanadischen Wildnis
Endlich frei! Da hat sich der deutsche Einwanderer und Ex-Knacki Harry Stokowski gerade noch so richtig gefreut auf die kanadische Einsamkeit und seine kleine Insel, die er samt Häuschen schon vor Jahren erstanden hat – und da steht auf einmal diese impertinente Person, Susan Bennett, vor ihm, behauptet, das romantische Eiland gehöre ihr und unterstreicht die Besitzverhältnisse dazu noch mit Waffengewalt. Diesem Flintenweib ist der  eher unbedarfte Harry nicht gewachsen. Dennoch pocht er auf sein Recht. Doch wie bekommt man Recht, wenn die schießwütige Lady das einzige Boot, mit dem man das Festland erreichen könnte, mit Kugeln durchlöchert hat? Die beiden müssen sich also erst einmal arrangieren. Dann entdeckt der Deutsche, der so gut wie nichts kann, was man für das Leben in der Wildnis braucht, seine praktischen Fähigkeiten, macht einen „Ausflug“ und erfährt dabei so einiges über seinen ungebetenen Gast: Die ebenso „heiße“ wie verrückte Ex-Hippie-Braut sei aus dem Pflegeheim abgehauen. Seltsam, pflegebedürftig wirkte diese Susan gar nicht. So fest entschlossen Harry gerade noch war, sie bei der Polizei anzuzeigen – den Altenknast will ihr der Strafvollzugserfahrene doch lieber ersparen und kehrt unverrichteter Dinge auf die Insel zurück. Es ist an der Zeit, dass sich beide besser kennenlernen.

Harrys InselFoto: Degeto / Chris Reardon
Die einzigen (tragenden) Nebenrollen mit einem Kanadier (Philipp Rafferty) und einer noch unbekannten Deutschen (Cosima Henman) zu besetzen, ist für die Geschichte und diesen Schauplatz die richtige Entscheidung gewesen. Stumph & Katrin Sass

Aus einer Abenteuerkomödie wird ein Drama mit berührenden Momenten
Zu zweit ist man weniger allein – zu dieser Erkenntnis allerdings gelangt der Titelheld in der Degeto-Tragikomödie „Harrys Insel“ erst nach Tagen handfesten Beziehungsclinchs. Obwohl er Susan nicht verraten hat, will er sie weg haben von seinem Fleckchen Erde, an dem er – der von den Menschen, der Gesellschaft und ihren bisweilen so inhumanen Gesetzen offensichtlich enttäuscht ist – seinen Lebensabend allein verbringen möchte. Jener Susan geht es da nicht viel anders. Auch sie hat Ärger mit den Behörden – und vor allem hat sie offenbar massive gesundheitliche Probleme. Sie hat Schmerzen, sie betäubt sich mit Joints und Rum, und im Notfall verabreicht sie sich eine Dosis Morphium. Ihrem neuen Mitbewohner kommt das alles sehr bekannt vor. So unterschiedlich diese beiden Protagonisten auch sind, ähnliche Erfahrungen bringen sie einander näher. Wenn der Film von der verkappten – dialogisch etwas halbherzigen – Screwball Comedy im Abenteuer-Look zum Drama wechselt, indem er die individuellen Biographien der beiden Aussteiger streift, bekommt er plötzlich einen unerwarteten Tiefgang und dank seines spielfreudigen Duos eine Reihe sehr berührender Momente. Wolfgang Stumph und Katrin Sass, zwei Schauspieler mit sehr unterschiedlichen Temperamenten und jeder entsprechend aus einer anderen Genre-Tradition kommend, können ausgesprochen gut miteinander (was sie in „Heimweh nach drüben“ bereits zeigen durften).

Ungleiches Paar mit ähnlichen Erfahrungen & einer großen Freiheitsliebe
Und da ist dieser eine Augen-Blick nach knapp 30 Filmminuten: Der von der Kanadierin malträtierte Deutsche könnte den ganzen Ärger los sein – er müsste dem Polizisten nur sagen, dass er die steckbrieflich Gesuchte gesehen hat. Auch wenn es die Konstellation der Geschichte von vornherein nahelegt, dass sich hier zwei mit derselben Sehnsucht nach Selbstbestimmung finden werden: Diese Szene markiert den Umschwung – und wie Stumph das spielt, ernst und semantisch fein akzentuiert, lässt tief blicken. Sein Stokowski steckt voller Freiheitsliebe, spätestens das Leben hat ihn zum Melancholiker gemacht. Zurück auf der Insel kehrt sich nun nach und nach das Kräfteverhältnis zwischen dem ungleichen Paar um: Die selbstbewusste Lady wird schwächer, der verunsicherte Auswanderer gewinnt an innerer Stärke (wenn nicht gerade ein Bär durchs Fenster schaut) und beide haben ein zunehmend offeneres Ohr für den anderen. Und die Themen werden intimer: „Konntest du dich von deiner Frau verabschieden?“, fragt beispielsweise Susan den durch die persönlichen Gespräche sichtlich bewegten Harry. In solchen Augenblicken scheint eine Wahrhaftigkeit auf, die die eher „unrealistische“ Setzung der Geschichte gänzlich vergessen lässt. Plötzlich „glaubt“ man als Zuschauer das, was man da lange Zeit allein für einen Vorwand hielt, um eine unterhaltsame Geschichte in einem fürs Fernsehen ungewohntem Ambiente zu erzählen.

Harrys InselFoto: Degeto / Chris Reardon
Zwei im selben Boot. Ein Hauch Abenteuerromantik – trotz der schweren Themen Krankheit und Verlust der Selbstbestimmung – kommt auch beim Zuschauer auf. Katrin Sass und Wolfgang Stumph

Das Kammerspiel in Landschaft reizt Genre- und Realismus-Grenzen aus
„Harrys Insel“ hat nichts mit dem Fernsehfernwehkitsch zu tun, wie er aus dem „Traumschiff“ oder gelegentlich noch dem ZDF-„Herzkino“ herüberweht. Sollten hier Sehnsuchtsbilder aufkommen, sind es nicht die aus dem Reiseprospekt, sondern die aus der Kindheit. Wenn dieser Harry Stokowski da mit seinem Kanu durch das leuchtend blaue Wasser paddelt, sich das „odd couple“ kappelt oder einem wilden Braunbären gegenüber sieht, keimt eher Abenteuerromantik auf – ein bisschen „Lederstrumpf“, ein bisschen „Robinson Crusoe“. Als ein Zwei-Personen-Stück, ein Kammerspiel in Landschaft, ist dieser Film ein interessanter Versuch, die Genre- und Realismus-Grenzen am Freitagabend im Ersten weiter auszureizen und einem Thema, das sonst in sterilen Pflegeheimen oder langweiligen Wohnzimmern szenisch abgehandelt wird, eine neue Perspektive zu geben: Selbst-Verantwortung für das eigene Leben und Unabhängigkeit im Alter – Themen, die in Degeto-Filmen (z.B. in den Hörbiger-Filmen „Luises Versprechen“ oder „Die letzte Reise“) des Öfteren erzählt werden – sind hier mehr als eine gut gemeinte Fußnote. Dass das Ganze als Komödie beginnt, ist kein Nachteil; allerdings hätten die komödiantischen Elemente im ersten Filmdrittel noch mehr sprachliche Raffinesse und Situationskomik vertragen können. Fraglich ist auch, ob es unbedingt immer eine Makro-Dramaturgie sein muss, nach der man als Zuschauer die Uhr stellen kann. Bei einem so schön schrägen Pärchen, das sein Leben (und Sterben) selbst bestimmt, ist so viel Erzählkonvention unpassend. (Text-Stand: 9.11.2017)

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Fernsehfilm

ARD Degeto

Mit Wolfgang Stumph, Katrin Sass, Cosima Henman, Philipp Rafferty, Charlie Rhindress

Kamera: Adrian Cranage

Szenenbild: Bill Fleming

Schnitt: Theo Strittmatter, Günter Heinzel

Redaktion: Claudia Luzius, Sascha Schwingel (ARD Degeto)

Produktionsfirma: Ariane Krampe Filmproduktion

Produktion: Ariane Krampe, Sven Woldt

Drehbuch: Scarlett Kleint, Alfred Roesler-Kleint – Buchbearbeitung: Anna Justice

Regie: Anna Justice

Quote: 4,28 Mio. Zuschauer (14,8% MA)

EA: 01.12.2017 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

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