Grenzgang

Michelsen, Eidinger, Hollinger, Bertele & der Siebenjahresrhythmus im Liebesleben

Foto: WDR / Christiane Pausch
Foto Rainer Tittelbach

Zwei Menschen hatten eine flüchtige und doch nachhaltige Begegnung. Sieben Jahre später kommen sie sich wieder näher, sich zu öffnen aber fällt beiden schwer. „Grenzgang“, entstanden nach dem Roman von Stephan Thome, ist ein Film über die Bedingungen, die die Liebe ermöglichen oder – besser – erschweren können, in einem Lebensabschnitt, in dem die ersten Träume zerplatzt sind. Der Film von Brigitte Maria Bertele ist kein Themenfilm, steckt aber voller wahrhaftiger Lebenssituationen: Angst vor Enttäuschung, Angst vorm Alleinsein, Tod, das Absterben der Gefühle, der Wille zur Veränderung. Dramaturgisch & inszenatorisch der außergewöhnlichste TV-Film 2013. Und Claudia Michelsen ist zum Niederknien.

Die Grenzgang-Feierlichkeiten im oberhessischen Bergenstedt sind für Kerstin und Thomas mehr als bierseliges Brauchtum. Hier hatten sie vor sieben Jahren eine flüchtige und doch nachhaltige Begegnung. Beide sind irgendwann in der Provinz gestrandet: sie der Liebe wegen, er, weil er keine bessere Idee hatte nach seiner verpatzten Uni-Karriere. Noch ein paar Tage, dann sind die sieben Jahre wieder um; das nächste Grenzgang-Volksfest steht vor der Tür. Es werden entscheidende Tage. Kerstins demenzkranke Mutter bereitet sich aufs Sterben vor. Sohn Daniel, einst süßer Fratz zum Ankuscheln, heute pubertierendes Scheidungskind, probt hartnäckig den Aufstand gegen seine Mutter. Durch sein asoziales Verhalten in der Schule kommen sich Kerstin und Thomas, mittlerweile Lehrer am Bergenstedter Gymnasium, wieder näher. Zwei Seelenverwandte in einem Kaff. Da ist etwas zwischen ihnen. Jeder spürt es. Beide kosten diese Magie im Stillen aus. Doch keiner bewegt sich – bis Kerstin es nicht mehr aushält: Es muss etwas passieren in ihrem Leben – und so macht sie den ersten Schritt…

GrenzgangFoto: WDR / Christiane Pausch
Stockender Dialog: Kerstin (Claudia Michelsen) versucht, aus Sohn Daniel (Sandro Lohmann) herauszubekommen, was in der Schule vorgefallen ist. Aber sie kommt nicht mehr an ihn heran.

„Grenzgang“, entstanden nach dem Roman von Stephan Thome, ist nicht das, was man einen Liebesfilm nennen könnte. Vielmehr ist es ein Film über die Bedingungen, die Liebe ermöglichen oder – besser – erschweren können, in einem Lebensabschnitt, in dem die ersten Träume zerplatzt sind und das Selbstbild deutlich Risse bekommt. Es ist ein Film über verkorkste Lebensstile, die sich gleichsam aus den Zwängen des Alltags wie den Ängsten der Glücksuchenden ergeben. Es ist ein Film über zwei Menschen, die den blauäugigen Blick durch die rosarote Brille hinter sich haben. Die beiden Protagonisten kommen wieder ins Träumen, aber nicht vorbehaltlos. Sie begrüßen die neue Lebensphase, stürzen sich aber nicht blindlings in die nächste Beziehung. „Es liegt nichts Beschämendes darin, allein zu sein“, sagt der Mann. „Ich bin allein – ich bin neugierig“, entgegnet die Frau. Wird das was mit den beiden? Oder wird die erste Liebesnacht, die Nacht, in der die Mutter stirbt und die Tochter nicht bei ihr ist, zwischen ihnen stehen? Oder ist der Entschluss, sich einem anderen wieder zu öffnen, unwiderruflich und der Tod der Mutter Symbol für den Neuanfangs der Tochter?

Soundtrack: Lady Gaga („Starstruck“), Aretha Franklin („Natural Woman“), Eurythmics („Sweet Dreams“), Madonna („Music“), The XX („Swept Away“), The Black Keys („The Go Better“), Lambchob („Is a Woman“), Bersuit Vergarabat („Perro Amor Explota“); Ernst Haeflinger, Tenor, und Jörg Ewald Dähler, Hammerflügel („Ständchen“ – Franz Schubert „Schwanengesang“)

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Das traditionelle Grenzgang-Volksfest spiegelt den amourösen Grenzgang. Hanns Zischler in „Grenzgang“ (ARD/WDR, 2013)

Claudia Michelsen über den „Nerv der Zeit“ und den Lauf der Liebe:
„Liebe und Verbindungen werden schneller gelöst. Das bringt auch eine große Einsamkeit mit sich und die Angst, immer wieder verletzt zu werden. Ich denke, diese schnelle Bereitschaft zur Trennung liegt auch an der Schnelllebigkeit und dem medialen Wahnsinn, der uns 24 Stunden am Tag umgibt.“

Lars Eidinger über eine Schlüsselszene im Pärchenclub:
„Sie ist quasi der Auslöser dafür, dass Thomas und Kerstin sich später trauen, doch aufeinander zuzugehen. Denn im Pärchenclub hört die ganze Magie zwischen den beiden auf. Es ist schrecklich, wie sie sich in dieser trostlosen Umgebung plötzlich gegenüber stehen. Aber gleichzeitig wird ihnen bewusst, dass sie jetzt eine Entscheidung treffen müssen.“

Brigitte Maria Bertele über die Eingangsmetapher:
„Die durch das gegenwärtige Effizienz- und Selbstoptimierungsangebot anzutreffende Verdrängung des lustvollen Erlebens von Feiern, von Genussmitteln und Körperlichkeit wird im Film auf mythologischer Ebene durchbrochen – mittels der traditionell überlieferten Figur des Wettläufers, der mit dem Knall seiner Peitsche und dem Spiel des amourösen Erbeutens die Hauptfigur Kerstin in das Reich des Abenteuers, des Unkontrollierbaren, der Liebe ruft.“

GrenzgangFoto: WDR / Christiane Pausch
Ein Kuss als Versprechen: Sieben Jahre werden vergehen bis zum nächsten Volksfest. Doch bis aus Kerstin (Claudia Michelsen) und Thomas (Lars Eidinger) wirklich ein Liebespaar wird, werden auch noch Jahre vergehen.

„Grenzgang“ ist ein Film, der einen über das Ende hinaus nicht loslässt (vorausgesetzt, man fühlt sich von der Geschichte angesprochen). Auch in seinen 90 Minuten besitzt dieser Film eine ungewöhnliche dramaturgische Offenheit. So wie Hannah Hollingers Dramaturgie mit ihren Zeitsprüngen eine wohltuende Distanz ermöglicht, durch die das Geschehen nicht in braver Chronologie zerplätschert, so machen auch Regisseurin Brigitte Maria Bertele und Kameramann Hans Fromm den Zuschauer mit Hilfe vieler Totalen zum stillen Beobachter. In den Bildern und Szenen wird man nicht auf einen „Sinn“ verpflichtet, so wie auch die Geschichte nicht den Konventionen des Erzählfernsehens gehorcht: die Handlung wird nicht von einer äußeren dramaturgischen Logik gelenkt wie in den gängigen finalgesteuerten TV-Genres, die Schlüssigkeit zwischen den Szenen entspringt einer inneren, ganz individuellen Logik. Dieser Film erzählt sich selbst. Er wirkt wie hingetuscht, eine Miniatur des Alltags. Ein wunderbarer Film, den man am Ende am liebsten gleich noch einmal sehen möchte.

„Grenzgang“ ist kein Themenfilm. Der Film steckt hingegen voller wahrhaftiger Lebenssituationen, die im Erzählfluss zunehmend Konturen annehmen: die Angst vor dem sich öffnen, die Angst vor dem Alleinsein, die Angst vor abermaliger Enttäuschung. Auch das Sterben spielt eine Rolle in dieser vorbildlichen Literaturverfilmung: der Tod, der das Leben nachhaltig verändern kann, das Absterben der Gefühle, das emotionale Dahinsiechen. All das schwingt mit in dieser Geschichte, die dadurch etwas schwebend Universales, eine zeitlose Gültigkeit bekommt. Diese Wahrhaftigkeit dringt bis in die beiläufigsten Dialoge („Kinder wollen das, was sie wollen, immer ein bisschen mehr als ihre Eltern es nicht wollen“). Die des Mannes sind manchmal einfach nur zum Schmunzeln, weil sich in ihnen spiegelt, wie sehr jener Thomas doch immer noch an seinem intellektuellen Selbstbild klebt, das er nach außen präsentieren möchte („Ich weiß nicht, wo Sie wohnen, aber ich denke, wir beide haben denselben Heimweg“). Dass neben der Allgemeingültigkeit gleichzeitig in diesem Film auch die zeittypischen Erscheinungen, das Dilemma mit der Intimität in einer schnelllebigen Beziehungswelt und einer optionsreichen Mediengesellschaft, überaus präzise ins Bild gerückt werden, machen „Grenzgang“ zu einer filmischen Kostbarkeit. (Text-Stand: 27.10.2013)

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Fernsehfilm

NDR, WDR

Mit Claudia Michelsen, Lars Eidinger, Sandro Lohmann, Gertrud Roll, Gesine Cukrowski, Harald Schrott, Hanns Zischler, Margarita Broich

Kamera: Hans Fromm

Szenenbild: K.D. Gruber

Schnitt: David Rauschning

Produktionsfirma: Teamworx

Drehbuch: Hannah Hollinger – nach dem Roman von Stephan Thome

Regie: Brigitte Maria Bertele

Quote: 3,72 Mio. Zuschauer (12,3% MA)

EA: 27.11.2013 20:15 Uhr | ARD

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