Frankfurt, Dezember ’17

Ada Philine Stappenbeck, Luser, Cooper, Flint, Petra K. Wagner. Urbanes Drama

Foto: HR / Bettina Müller
Foto Thomas Gehringer

Den Fall eines brutal von drei Jugendlichen zusammengeschlagenen Obdachlosen erzählt Petra K. Wagner in „Frankfurt, Dezember ’17“ (ARD / Produktion: Hessischer Rundfunk) als traurige Großstadt-Ballade. Im Mittelpunkt stehen drei Frauen: eine Freundin des Opfers, eine Tatzeugin und die Mutter des Haupttäters. Die Tat sorgt für Wendepunkte, lässt Beziehungen scheitern, bleibt aber ein willkürlicher, unerklärbarer Gewaltakt. Der dramaturgisch unkonventionell gebaute Film ist ein Plädoyer für Zivilcourage, ohne dass er die Botschaft pathetisch vor sich her tragen würde. Allerdings sind manche, vor allem männliche Figuren ziemlich eindimensional geraten. Und der Kunstgriff, die Hauptfiguren direkt in die Kamera und zum Publikum sprechen zu lassen, wirkt eher manieriert als besonders originell.

Gewalt in der vorweihnachtlichen Großstadt: Drei Jugendliche schlagen einen Obdachlosen krankenhausreif. Aber im Mittelpunkt stehen weniger die Tat und der Kriminalfall, sondern die Geschichten von drei Frauen, die auf unterschiedliche Weise in Bezug dazu stehen. Die junge Sam (Ada Philine Stappenbeck) ist in Frankfurt gestrandet, streift allein und verängstigt durch die Stadt, wird aber von Lennard (Christoph Luser) beschützt, als sie von anderen Männern belästigt wird. Krankenschwester Irina (Lana Cooper) hat mit dem verheirateten Arzt Carl (Barnaby Metschurat) eine Affäre. Beide haben im Auto Sex, während Lennard am Main-Ufer angegriffen wird. Irina will helfen, doch ihr Geliebter kneift und fährt weg. Erst als sie wieder zu Hause ist, informiert sie anonym die Polizei. In der zweiten Hälfte des Films kommt noch Anne Wegner (Katja Flint) hinzu, die Mutter des jugendlichen Haupttäters.

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Kommissarin Böhmer (Inga Busch) und die Mutter des jugendlichen Haupttäters (Katja Flint)

Die Freundschaft zwischen Sam und Lennard als emotionaler Lichtblick
Der raue Alltag der obdachlosen Außenseiter, der rohe Ausbruch der Gewalt, die brüchigen Beziehungen: Autorin und Regisseurin Petra K. Wagner erzählt ein überwiegend deprimierendes urbanes Drama. Die Stadt als ungastlicher Ort, in dem jeder Einzelne für sich kämpft. Sam wird weggejagt, als sie sich etwas Obst aus der Mülltonne eines Supermarkts besorgt. Besonders mit ihr bangt man als Zuschauer mit. Die junge Frau, die das Leben auf der Straße offenbar nicht gewohnt ist, wirkt wie eine leichte Beute im Überlebenskampf. „Ich versuche nicht aufzufallen, unsichtbar zu sein“, hört man Sam aus dem Off sagen. Für fast den einzigen erwärmenden emotionalen Ausschlag sorgt Wagner mit der Geschichte der Annäherung zwischen Sam und Lennard. Er nimmt sie mit in seine „Residenz“, ein leer stehendes Hochhaus im Rohbau, dessen Weiterbau gestoppt wurde. Lennard ist hilfsbereit und fürsorglich, schenkt ihr Kleidung, Schuhe und ein Messer, ist aber auch misstrauisch und paranoid. Er verbietet Sam strikt, sein Lager, den „Salon“, zu betreten. Das überzeugende Spiel der beiden Darsteller, die unpathetische Darstellung des Obdachlosen-Lebens sowie die in diesem Handlungsstrang stimmigen Dialoge gehören zu den Stärken des Films.

Überflüssige Verdopplung durch inszenatorischen Kunstgriff
Weniger überzeugend ist vor allem der Kunstgriff, die Hauptfiguren ab und zu – wie im Brechtschen Theater – aus dem fiktionalen Spiel hervortreten und direkt in die Kamera sprechen zu lassen. Das wirkt eher manieriert als originell, denn zum einen hat sich dieses Stilmittel durch die Verwendung in Dokudramen reichlich abgenutzt und zum anderen haben die von Gewissensbissen geplagte Irina und die durch die Anschuldigung gegen ihren Sohn aufgewühlte Anne nichts zu sagen, was sie in ihrem szenischen Spiel nicht ohnehin bereits zum Ausdruck gebracht hätten. So sind diese ans Publikum gerichteten „Erläuterungen“ nichts weiter als überflüssige Verdoppelungen. Und auch ohne dieses Stilmittel hätte sich der Film ausreichend von konventionellen Fernsehdramen abgesetzt. So fordert Petra K. Wagner das Publikum durch eine nicht chronologische Erzählweise heraus – während zu Beginn die Gewalttat gezeigt wird, um in dem einen Handlungsfaden Irinas Ringen mit ihrem schlechten Gewissen zu erzählen, laufen parallel mit dem Aufeinandertreffen Sams und Lennards die Tage vor dem brutalen Angriff ab.

Frankfurt, Dezember ’17Foto: HR / Bettina Müller
Eine der Frankfurter Geschichten dreht sich um Krankenschwester Irina (Lana Cooper), die mit dem verheirateten Arzt Carl (Barnaby Metschurat) eine Affäre hat.

Film-Realismus mit unwirklichem Touch
Auch sind die Figuren nur mit wenigen Hinweisen auf Motive und Vorgeschichte versehen, den jugendlichen Täter Rio (Jonathan Stolze) inbegriffen. Wieso Sam und Lennard ins soziale Abseits gerutscht sind, bleibt ebenfalls offen. „Eigentlich war ich auf der Durchreise, dann bin ich hier hängen geblieben“ – mehr erfährt man nicht über Sams Schicksal. In den Sachen Lennards befindet sich ein Foto seiner (?) Frau mit Kind, und immerhin lassen der Stadtplan von Barcelona und ein gerolltes Bündel Geldscheine verborgene Pläne vermuten. Beide wirken so fremd und haltlos in dieser Stadt, dass der Realismus im Film einen unwirklichen Touch bekommt. Wenn sich beide auf dem Dach ihrer „Residenz“ vorsichtig aneinander schmiegen, umringt von den Hochhaustürmen der Frankfurter Finanzwelt, findet auch die Kamera ein starkes Bild für soziale Differenzen und die Sehnsucht nach Zusammenhalt. Sam, die sich aus purer Selbsterhaltung „unsichtbar“ machen wollte, will nun wieder Spuren hinterlassen, und sei es nur, indem sie ihren Namen in die nicht verputzte Wand ritzt. Auch Lennard, der am liebsten keine Spuren hinterlassen will, weil er die „absolute Kontrolle“ fürchtet und glaubt, die Sterne seien durch Satelliten ersetzt worden, beginnt in der Gesellschaft mit Sam seine Furcht und Einsamkeit zu überwinden. Große Gefühle kommen hier ganz leise ins Spiel, mit den geflüsterten ersten Textzeilen von Bonnie „Prince“ Billys „Love Comes to Me“.

Männliche Nebenfiguren stehen für Egoismus und Gleichgültigkeit
Wagners traurige Großstadt-Ballade ist ein Plädoyer für Zivilcourage, ohne dass der Film die Botschaft pathetisch vor sich her tragen würde. Allerdings sind die männlichen Nebenfiguren ziemlich eindimensionale Abziehbilder, die stellvertretend für Egoismus und Gleichgültigkeit stehen. Carl will Irina davon abhalten, eine Aussage bei der Polizei machen. „Das war doch nur ein Penner“, sagt er und bedroht sie aus Sorge um die eigene Karriere. Was die beiden außer Sex jemals verbunden haben mag, bleibt völlig rätselhaft. Während Anne ihren Sohn Rio in der U-Haft aufsucht, um die Motive für dessen erschreckendes Handeln zu ergründen, ist Ehemann Rolf (Arian Zollner) der Typ Vater, der seinen Sohn lautstark im Gespräch mit Kommissarin Böhmer (Inga Busch) verteidigt, aber sich im Grunde nicht für ihn interessiert. Zwischen den getrennt lebenden Eheleuten kommt es zum Streit auch um das Sorgerecht für Rios jüngeren Bruder – ein Streit, der in recht konventionellen Dialogen ausgefochten wird. So nimmt die Handlung zwar in der zweiten Film-Hälfte, in der Lennard anfangs im Koma liegt, an Dramatik zu, ohne aber vollauf fesseln zu können. Dass Petra K. Wagner einige Fäden zusammenführt, aber keine schlüssige und abschließende Auflösung serviert, ist allerdings konsequent. Der Überfall von Rio und seiner beiden Kumpane, die Attacke von drei Abiturienten auf einen Obdachlosen, bleibt ein willkürlicher, unerklärbarer Gewaltakt.

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Fernsehfilm

HR

Mit Ada Philine Stappenbeck, Christoph Luser, Lana Cooper, Katja Flint, Jonathan Stolze, Arian Zollner, Inga Busch, Barnaby Metschurat

Kamera: Johannes Monteux

Szenenbild: Manfred Döring

Kostüm: Stefanie Bieker Schnitt. Silke Franken

Musik: Helmut Zerlett

Redaktion: Lili Kobe, Liane Jessen

Produktionsfirma: Hessischer Rundfunk

Drehbuch: Petra K. Wagner

Regie: Petra K. Wagner

Quote: 3,60 Mio. Zuschauer (12,2% MA)

EA: 17.10.2018 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

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