Mia (Rosa Zach) stürzt sich vom Geländer einer verlassenen Industrieanlage – und filmt dabei mit dem Smartphone den eigenen Tod. „Für einen Moment wirst du fliegen“, hatte ihr „König Minos“ versprochen. Der Unbekannte betreibt ein Online-Spiel, das er bezeichnenderweise #Ikarus genannt hat. In der griechischen Mythologie stürzte Ikarus allerdings eher aus Übermut ab, weil er zu hoch gestiegen und das Wachs auf seinen Flügeln in der heißen Sonne geschmolzen war. In „Flügel aus Beton“ folgen depressive Jugendliche dagegen den Anweisungen eines anonymen Spielleiters, der ihnen nach sechzehn zunehmend schmerzhaften Runden die letzte Aufgabe stellt: den Suizid. Auch Laura (Rika Schlegel), die von Klassen-Biest Stefanie (Andrea Guo) und ihren Freundinnen gemobbt wird, spielt das Ikarus-Spiel. Die Nachricht von Mias Tod schockt sie keineswegs, sondern scheint sie geradezu anzustacheln. Ein heftiges, aber – zum Glück – nicht sehr realistisches Szenario über die Manipulation Jugendlicher durch Online-Medien. In der Fiktion sind Zuspitzung und dramatische Steigerung legitime Mittel, aber im Zusammenhang mit dem Thema Suizid gerät das Szenario schnell in den Verdacht unzulässiger, womöglich gar gefährlicher Effekthascherei. Damit würde man diesem ARD-Mittwochsfilm allerdings Unrecht tun.
Die Hauptfigur ist Referendarin Gabrielle Amadou (Victoire Laly), weshalb „Flügel aus Beton“ auch kein reines Jugenddrama ist. Vielmehr nutzt Drehbuch-Autorin Lilly Bogenberger Thriller-Elemente, während sich Regisseurin Lea Becker in ihrer Inszenierung bemüht, dem heiklen Thema gerecht zu werden, ohne Nachahmungsreize für junge Menschen zu setzen. Mia springt nicht von einer leicht zu identifizierenden Brücke, sondern vom Gerüst eines Industriewerks im Nirgendwo. Die Kameraführung von Doro Götz, die für die Arbeit an diesem Film für den Deutschen Kamerapreis nominiert wurde, ist zurückhaltend. Auch wird das Leid, das Mias Tod etwa beim alleinerziehenden Vater (Rainer Sellien) verursacht, weder ausgeblendet noch langatmig ausgewalzt. In den Mittelpunkt rücken stattdessen Aufklärung und die Verhinderung weiterer Suizide. „Flügel aus Beton“ verfolgt also einen konstruktiven Ansatz, das Ensemble umfasst schwache und starke, sympathische und unsympathische Nebenfiguren und macht somit ein differenziertes Identifikations-Angebot für Jugendliche. Das pure Böse findet sich hier nicht. Eine Schrifttafel warnt vor Filmbeginn dennoch, der Film könne „unangenehme Gefühle und negative Reaktionen hervorrufen“.
Gabrielle, die nach dem Tod der Mutter deren Platz für ihre pubertierende Halbschwester Ava (Seyna Sylla) eingenommen hat, hakt bei Mias Mitschüler*innen nach, sucht nach Mias Datenspuren im Netz und kommt so der Existenz des Spiels bald auf die Schliche. Ava, die Kickbox-Freundin von Klassenzicke Stefanie, weiß ebenfalls davon, scheint aber nicht gefährdet. Im Gegenteil: Sie zeigt Interesse an Laura und freundet sich mit ihr an – was die Hoffnung nährt, dass das schüchterne Mädchen rechtzeitig vom fatalen Weg abgebracht werden kann. Da die Polizei nichts unternehmen will, meldet sich Gabrielle unter Avas Namen selbst bei #Ikarus an und beginnt, das Spiel zu spielen. Aber trotz ihrer nach außen demonstrierten Stärke bleibt eine Ungewissheit: Denn eine Narbe an der Hand zeugt davon, dass die Referendarin selbst schon einmal einen Suizidversuch begangen hatte. Außerdem bestellt sie bei dem „psychisch angeschlagenen“ Physiklehrer Daniel Städke (Anton Weil) Tabletten, die ihr durch den Alltag helfen sollen.
Für Emotionalität, Dramatik und Spannung ist daher auf mehreren Ebenen gesorgt. Steht Gabrielle das Spiel durch, ohne wieder selbst das seelische Gleichgewicht zu verlieren? Ist Laura noch zu retten? Was wird aus den Freundschaften und romantischen Annäherungen? Und vor allem: Wer ist „König Minos“? Positiv hervorzuheben ist die diverse Besetzung, ohne dass mit einem einzigen Wort unterschiedliche Hautfarben oder Herkunftsgeschichten thematisiert würden. Die deutsche Gesellschaft ist hier auf eine selbstverständliche Weise bunt, was auch bedeutet, dass Menschen jeder Couleur sowohl positive als auch negative Held*innen sein können. Rektorin Goldschmidt (Krista Birkner) versteckt sich am liebsten hinter Gabrielle und will sie nach dem geglückten Hackerangriff von „König Minos“ auf die Trauerfeier für Mia sogar zum Sündenbock machen. Auch die von Joy Maria Bai gespielte Kommissarin sprüht nicht gerade vor Engagement.
Die darstellerischen Leistungen in dem zum Teil mit Laien besetzten Ensemble wirken manchmal etwas ungelenk, und die finale Auflösung des „König Minos“-Rätsels kann auch nicht recht überzeugen. Aber „Flügel aus Beton“ ist keiner dieser Themenfilme, der von oben herab auf die Jugendlichen und ihre Nöte herabblickt. Und einen ARD-Mittwochsfilm, der auf den kreativen Schlüsselpositionen nahezu ausschließlich mit jungen Frauen besetzt ist, gibt es auch nicht alle Tage. Fragwürdig ist der Film aber doch in einem nicht unbedeutenden Detail: Lilly Bogenberger („So laut du kannst“) bezieht sich nach eigenen Angaben auf die „Blue Whale Challenge“, die angeblich ebenfalls mit dem Suizid des Teilnehmers endete. Allerdings gab es dieses Online-Spiel niemals wirklich. Die Verbreitung der Falschnachricht seiner angeblichen Existenz wurde vor fünf Jahren jedoch zum Internet-Phänomen, das Nachahmer zu ähnlichen Versuchen animierte – und nun auch noch ins Fernsehen verlängert wird. Dieser medienkritische Aspekt wird etwas leichtfertig ausgeblendet. (Text-Stand: 4.3.2022)
„Der Würzburger Medienpsychologe Frank Schwab, der weder im Abspann noch in den Presse-Unterlagen als Fachberater aufgeführt wird, erklärt zum Umgang mit dem Thema laut WDR:
„Es besteht bei Suizid immer die Gefahr, dass das Thema tabuisiert wird und dadurch aus der Gesellschaft verschwindet. Das sollte nicht passieren. Bei Jugendlichen ist Suizid eine der häufigsten Todesursachen. ,Flügel aus Beton‘ enttabuisiert das Thema und bringt es in die Öffentlichkeit. Der Film lädt zum Nachdenken und zum Gespräch ein. Generell ist es wichtig, das Thema Suizid darzustellen, man darf es aber nicht ästhetisieren, also ,schick‘ machen. Es muss, um realistisch zu sein, schmerzen und darf seinen Schrecken nicht verlieren. Keineswegs ist es ratsam, es so zu inszenieren, dass sich davon jemand angezogen fühlt.““