Feuchtgebiete

Carla Juri, Meret Becker, Charlotte Roche, Wnendt. Schlüssiges Gesamtkonzept

Foto: ZDF / Peter Hartwig
Foto Sophie Charlotte Rieger

Helen ist ein traumatisiertes Scheidungskind, das auf alles scheißt, was normal ist und zum guten Ton gehört, sie ist eine Heranwachsende, die sich sträubt gegen jegliche Werte und Normen. Dramaturgisch konnte Autor Claus Falkenberg „Feuchtgebiete“, den etwas eindimensionalen Erfolgsroman von Charlotte Roche, nicht neu erfinden; dafür konnte Regisseur David Wnendt („Kriegerin“) die Geschichte einer starken filmästhetischen Auffrischung unterziehen. Das eigentliche Ereignis des Kinofilms aber heißt: Carla Juri.

David Wnendt widmet sich nach „Kriegerin“ auch in „Feuchtgebiete“ einer unkonventionellen Frauenfigur. Schon bei seinem Debüt gehörte die Einfühlung des Regisseurs in seine Heldin zu den hervorstechendsten Merkmalen des Films. Helen, gespielt von Carla Juri, ist eine heranwachsende Frau, die sich sträubt gegen jegliche Werte und Normen, die ihr von der Gesellschaft vorgelebt werden. Trotz komischer Momente nimmt Wnendt seine Heldin ernst und ermöglicht dadurch dem Zuschauer, die Welt der Protagonistin von innen zu betrachten.

Man könnte sagen, Helen ist ein traumatisiertes Scheidungskind. Aber in ihrem Leben ist mehr schiefgelaufen als nur die Ehe ihrer Eltern. Deshalb will Helen selbst auch lieber keine Kinder haben. Stattdessen züchtet sie mit großer Leidenschaft Avocados, studiert ihr Vaginalsekret und hat Sex mit weiblichen Prostituierten. Um sich von ihrer um Keimfreiheit bemühten Mutter abzugrenzen, verabscheut Helen Hygiene, vor allem die des eigenen Körpers. Dabei ist das Tauschen benutzter Tampons mit der besten Freundin die kleinste Übertretung allgemein anerkannter Verhaltensregeln. Doch mit einer Analfissur wird alles anders. Helen muss ins Krankenhaus und zum ersten Mal in ihrem Leben geht es ihr richtig dreckig. Und wie das ja häufig so ist mit einer Krise, beginnt auch Helen, ihr Leben neu zu überdenken. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis: Ihre Eltern müssen unbedingt wieder zueinander finden.

FeuchtgebieteFoto: ZDF / Peter Hartwig
Der Film „Feuchtgebiete“ ist besser als Charlotte Roches Buch – und das Ereignis des Films heißt Carla Juri!

Mal chronologisch, mal in wild zusammengewürfelten Rückblenden bringt „Feuchtgebiete“ uns seine Hauptfigur näher. Die oft kurzen Episoden aus Helens Leben werden durch die Protagonistin zu großen Teilen mit den Textpassagen aus dem Roman kommentiert. Helen ist und bleibt die Erzählerin ihrer Geschichte und wie sie selbst sagt, können wir uns auf ihre Darstellung der Ereignisse nicht immer 100%ig verlassen. Wie schon der Roman krankt auch der Film im späteren Verlauf an der fehlenden Substanz. Die Handlung ist stark reduziert und der Film besteht zum Großteil aus Erinnerungsfragmenten, die immer neue skandalöse Bilder kreieren. Für zwei Kinostunden vielleicht etwas wenig, aber Fernsehen funktioniert anders.

An anderer Stelle jedoch ist die filmische Umsetzung der literarischen Vorlage überlegen. Dass „Feuchtgebiete“ auf der Leinwand so viel mehr Spaß macht als beim Lesen, ist David Wnendts großartiger Inszenierung zu verdanken. Er erzählt seine Geschichte Helens Charakter entsprechend chaotisch und temporeich. Schnelle Schnitte, bunte Farben, Splitscreens und eine dynamische Musikuntermalung irgendwo zwischen Elektro und Punk verleihen dem Gesamtkonzept die Energie, die ihren Charakter ausmacht. Egal wie krude die Ereignisse, David Wnendt lässt seine Erzählerin stets mit derselben trockenen Selbstverständlichkeit agieren, die beim Publikum Schock, Skepsis und schließlich Gelächter auslöst. Im späteren Filmverlauf fungiert Krankenpfleger Robin als Spiegel der Zuschauer-Emotionen. In seinem entgeisterten Gesicht finden wir alle jene Gefühle wieder, die uns selbst in Anbetracht von Helens unberechenbarem Verhalten überkommen. Wo wir beim Lesen des Romans noch auf eigenes Kopfkino angewiesen waren, liefert die Filmversion ein Gerüst mit Bezugspunkten, die es uns erleichtern, Helens Verhalten einzuordnen. Auch Robin ist schockiert und irritiert, also dürfen wir es auch sein. Das beruhigt. Während der Roman uns der verrückten Welt seiner Hauptfigur ungefiltert aussetzte, spielt sich die Filmversion in einer uns bekannten Realität ab. So kann das Aufeinanderprallen von Helens Extravaganz mit den uns bekannten Werten und Normen Humor erzeugen. Apropos: Humor. Lachen scheint bisweilen die einzige verfügbare Reaktion zu sein auf die ungewohnt expliziten obszönen oder gar abstoßenden Bilder.

FeuchtgebieteFoto: ZZDF / Peter Hartwig
Solche romantisch-sinnlichen Feuchtgebiete sind eher die Ausnahme im Film. Carla Juri und Christoph Letkowski

David Wnendt übersetzt Charlotte Roches Ideen nicht nur gekonnt in Bilder, er ergänzt das Konzept auch um surreale Elemente. Traumsequenzen, Drogentrips und Erinnerungen gehen fließend ineinander über, so dass der Zuschauer sich niemals sicher sein kann, welche Episode der Realität und welche nur Helens Einbildungskraft entspringt. Hierdurch erhält der Film zudem eine rauschhafte Komponente, die den Plot von einer realistischen Erzählung abgrenzt. So überdreht und irrwitzig die Geschichte auch sein mag, so überzeugend ist Carla Juri. Sie verleiht Helen genau die richtige Mischung aus Tomboy-Image und Lolita. Mal derb und frech, mal verführerisch und sexy – Juri kann mühelos alle Facetten der komplexen Hauptfigur glaubwürdig verkörpern. Sie trägt entscheidend dazu bei, dass Helen von einer literarischen Kunstfigur zu einem echten Menschen wird, mit dem wir schließlich sogar mitleiden. Viel stärker als noch im Roman können wir Helens verletzliche Seite kennenlernen und in ihrem wilden Verhalten die Suche nach Liebe und Konstanz entdecken.

Diese Kinokoproduktion ist nichts für zarte Gemüter. Wie auch Charlotte Roche in ihrem Roman nimmt das Drehbuch von Claus Falkenberg (und David Wnendt) kein Blatt vor den Mund. Kein Tabu ist zu groß, um es nicht zu brechen. Erigierte Penisse, Sperma, Fäkalien, Menstruationsblut – alles darf gezeigt werden. Da mag dem einen oder anderen die Frage auf den Lippen liegen, ob das denn unbedingt sein muss. Nein, muss es natürlich nicht. Aber David Wnendt gelingt es mit seiner Inszenierung, ein schlüssiges Gesamtkonzept zu stricken, in dem diese fragwürdigen Elemente nicht wie eine bewusste Provokation wirken, sondern als selbstverständliche Ingredienzien eines innovativen Rezepts erscheinen. „Feuchtgebiete“ ist durch und durch wild und unkontrolliert. Und das ist gut so. (Text-Stand: 28.3.2015)

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Kinofilm

ZDF

Mit Carla Juri, Meret Becker, Axel Milberg, Christoph Letkowski, Marlen Kruse, Peri Baumeister, Edgar Selge Kamera Jakub Bejnarowicz

Schnitt: Andreas Wodraschke

Musik: Enis Rotthoff

Produktionsfirma: Rommel Film

Drehbuch: Claus Falkenberg, David Wnendt – nach dem Roman von Charlotte Roche

Regie: David Wnendt

EA: 04.05.2015 22:15 Uhr | ZDF

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