Nach einem siebenwöchigen Klinikaufenthalt hat der Burnout-geplagte Jochen Windscheidt keine Zeit, um richtig anzukommen. Sein Kompagnon im gemeinsamen Architekturbüro hat sich mit einer halben Million abgesetzt. Aber auch in der Familie brennt es an allen Ecken und Enden. Die Alzheimer-Erkrankung von Susanne Windscheidts Mutter schreitet rapide fort. Sohn Florian, aus einer früheren Beziehung von Susanne, geht kaum noch zur Schule und vertickert Drogen, um sich sein Taschengeld aufzubessern. Da geht es fast unter, dass Jochens Tochter Marie sich wie eine „Lernmaschine“ vorkommt und sich in der Patchwork-Familie wie das fünfte Rad am Wagen fühlt. Gut, dass wenigstens Jochens und Susannes gemeinsamer Filius Benni sich unauffällig zu entwickeln scheint und dass Susannes Beförderung zur Jobcenter-Chefin so gut wie sicher ist. Doch plötzlich taucht ein ernsthafter Konkurrent auf. Auch die Lage in Jochens Firma spitzt sich zu. Eine Hypothek auf das Haus der Winterscheidts ist die einzige Chance, um das Ruder vielleicht noch herumzureißen.
„Gesellschaft zu erzählen“, war die Maßgabe von Fernsehfilmchef Reinhold Elschot für „Familie Windscheidt“. Das ZDF strebt eine Reihe an – und man kann es sich nur wünschen, dass es nach dem Auftaktfilm „Der ganz normale Wahnsinn“ tatsächlich weitergeht, dass Autor Martin Rauhaus die Chance bekommt, „von einer Mittelstandsfamilie zu erzählen, der man für längere Zeit durch ihr Leben folgt, durch Höhen und Tiefen, durch Heiteres und Tragisches“. Gesellschaftliche Wirklichkeit, einmal nicht durch die coole Brille des Verbrechens betrachtet, sondern gespiegelt im Alltag einer Fastdurchschnittsfamilie – im Jahr 2012 ist schon der Versuch lobenswert. „Gezeigt werden sollen keine Konstruktionen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die sich fetzen und aneinander reiben und wahrscheinlich manchmal auch genug haben von all dem Chaos“, bringt Autor Rauhaus das Konzept auf den Begriff. Diese Absichtserklärung klingt ein wenig banal. Im fertigen Film sieht es viel weniger nach Konzeption aus. Da guckt man dem Alltag beim Alltagsein zu.
Wer sich ein bisschen in der Fernsehgeschichte auskennt – den dürfte „Familie Winterscheidt“ an den 80er-Jahre-Quotenhit „Diese Drombuschs!“ erinnern. Auch in diesem Serien-Reihen-Zwitter standen die Malheurs, die Probleme, die kleinen Glücksmomente einer Familie im Mittelpunkt. Auch damals schon wurde – anders beispielsweise als in der „Schwarzwaldklinik – die Dramaturgie maßgeblich vom Alltag bestimmt. 30 Jahre danach muss aber auch Vieles anders sein: Martin Rauhaus’ Geschichten neigen stärker zu dem, was man aus Fernsehfilmen und Familiendramen kennt, und sie neigen weniger zur klassischen Familienserie. Seifenoper-Muster könnten hier gar nicht erst zum Tragen kommen, weil sich der unaufhörliche Fluss des Lebens, der in dem Film natürlich auch ein ständiger Fluss der Bilder und Situationen ist, vor die sonst übliche Auf-und-ab-Dramaturgie schiebt. Dieses Merkmal der Realität spielt der Film besonders überzeugend aus: Es geht immer weiter, man hat kaum Zeit, um in Ruhe nachzudenken, und das Reden schiebt man erst recht auf die lange Bank. Erst als es kracht, bespricht das Paar das Ungeklärte in der Beziehung, den Suizidversuch, einen Seitensprung.
Bei Rauhaus geht es erst einmal lange Zeit bergab, um am Ende wenigstens einen Erfolg so richtig feiern zu können. Doch wie oft auch weiland bei „Diese Drombuschs!“ kündigt sich ganz am Ende das nächste Problem an: Wer klingelt da wohl an der Haustür? Vielleicht würde die eine oder andere Entlastung, eine positive Nachricht, dem Realismus-Konzept der Reihe gut tun. Die wilde Autofahrt über den Strand, die für ein emotionales Zwischenhoch bei den Windscheidts sorgt, ist auch für den Betrachter eine willkommene Abwechslung.
Vernachlässigt man den programmpolitischen und fernsehgeschichtlichen Wert von „Familie Windscheidt“ – auch dann ist „Der ganz normale Wahnsinn“, von Isabel Kleefeld inszeniert, ein frischer, ungemein flüssig erzählter, gut fotografierter 90-Minüter, der einem zwar geballt alle möglichen Probleme einer „leistungsorientierten“ Patchwork- Familie um die Ohren haut, der die Problemfelder aber elegant – jenseits einer simplen Zopfdramaturgie Marke „Lindenstraße“– miteinander verbindet. Anja Kling sieht man häufig, aber selten passte eine Rolle so gut zu ihr wie jene Susanne Windscheidt, und Hendrik Duryn hat sich nach vielen leichten Stoffen diese Rolle als suizidgefährdetes „Familienoberhaupt“ redlich verdient.
Eines noch ist besonders bemerkenswert am Realismus-Konzept der Reihe: Rauhaus & Co verfallen nicht auf die typisch deutsche Untugend, sich sogar noch bei einem Gesellschaftsdrama ins Unverbindliche zu flüchten. Was die Amerikaner oft machen, Ross und Reiter beim Namen zu nennen, was bei uns schon Ekel Alfred durfte – in „Familie Windscheidt 1“ zeigen sich zumindest erste Ansätze zu dieser Art der Wirklichkeitsnähe: die Kritik an der Agentur für Arbeit durch die weibliche Hauptfigur ist auffallend konkret, Hartz IV und Schröder werden im Dialog kurzgeschlossen und auch die Regierung bekommt ein Armutszeugnis ausgestellt: „Es ist aber trotzdem ein Wahnsinn, dass eine Regierung in Umfragen kaum mehr ein Drittel der Wähler hinter sich hat“, wirft Jochen Windscheidt im Gespräch mit seinem Vater ein. Und der haut noch fester drauf: „Das ist doch keine Regierung. Eine Frau aus der Ostzone, ein Bayer und dieser Milchreisbubi aus Ostasien, der für seinen schwulen Freund eingesprungen ist.“ Ein Anfang ist gemacht. Weiter so! (Zehn Jahre später muss man leider feststellen: Es wurde keine Reihe daraus)