Irgendwann stellt sich jeder Mensch die Fragen aller Fragen: Wer bin ich? Woher komme ich, wohin gehe ich? In vielen Science-Fiction-Geschichten ist das nicht bloß ein philosophisches Denkspiel, sondern eine existenzielle Herausforderung: Basieren meine Erinnerungen auf eigenen Erfahrungen oder sind sie programmiert? Verdanke ich mein Sein und damit auch mein Bewusstsein womöglich einem genialen Computerprogramm? Ist die Welt, in der ich lebe, real – oder eine Matrix? Vor diesem Hintergrund erzählt das preisgekrönte Duo Erol Yesilkaya und Sebastian Marka mit „Exit“ ein Drama, wie es sich auch Philip K. Dick ausgedacht haben könnte; nach den Kurzgeschichten des amerikanischen Autors sind Science-Fiction-Werke wie „Blade Runner“, „Total Recall“ oder „Minority Report“ entstanden.
Linus (Friedrich Mücke) hat gemeinsam mit seinem Freund Bahl (Aram Tafreshian) ein Computerprogramm entwickelt, das in der Lage ist, die Persönlichkeit eines Menschen komplett zu digitalisieren. Wenn jemand stirbt, existiert er virtuell weiter, sodass die Angehörigen jederzeit Kontakt aufnehmen können. Da die Daten in einer Cloud (Wolke) gespeichert werden, wird die kindliche Vorstellung vom ewigen Leben im Himmel auf diese Weise tatsächlich wahr. Linus, Bahl und Marketingpartner Malik (Jan Krauter) wollen ihre Entwicklung, die sie „Infinitalk“ genannt haben, an den mächtigen chinesischen Unternehmer Li (David Tse) verkaufen. Allerdings gibt es noch eine Vierte im Bunde: Am Abend vor der Vertragsunterschrift in einem Hotel in Tokio bekommt Linus’ Verlobte Luca (Laura de Boer) Skrupel. Li beherrscht den Markt für Hologramme. Stünde ihm auch noch Infinitalk zur Verfügung, hätte er nach Ansicht Lucas ein „Monopol auf die Realität“. Am nächsten Morgen ist Luca angeblich überstürzt zurück nach Deutschland geflogen, und Linus steckt unversehens in einem Komplott, das ihn alsbald in einen Strudel existenzieller Skepsis stürzt: Li misstraut er ohnehin, aber dann zweifelt er auch an der Loyalität seiner Freunde; und schließlich fragt er sich, ob die Welt, in der er lebt, nicht bloß eine Simulation ist.
Für die ARD ist ein derartiger Film ausgesprochen ungewöhnlich und entsprechend mutig: Das Genre Science Fiction ist normalerweise dem Kino vorbehalten. Wenn überhaupt, dann nimmt sich der Hessische Rundfunk solcher Stoffe an. Der HR hat Yesilkaya und Marka einige herausragende Sonntagskrimis zu verdanken. „Es lebe der Tod“ (2016) zum Beispiel, ein grandioser Tukur-„Tatort“, war ein raffiniertes Spiel mit Schein und Sein. Mit dem 2016 ausgestrahlten Film „Die Wahrheit“, einem verstörenden Krimi über die Machtlosigkeit der Polizei und einer der besten „Tatort“-Beiträge aus München, haben die beiden ihr Meisterstück abgeliefert. Das bislang größte Werk des Duos war jedoch „Meta“: Der 2019 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete „Tatort“ aus Berlin trieb dank einer raffinierten „Film im Film“-Konstruktion ein cleveres Spiel mit Hauptfiguren und Zuschauern. Das ist bei „Exit“ nicht anders; aber das offenbart sich erst mit der letzten Szene.
Vorlage für Yesilkayas Drehbuch ist die Kurzgeschichte „Nachspiel“ von Simon Urban; sie ist in der auf Anregung der Fernsehfilmredaktionen von SWR und NDR entstandenen Anthologie „2029 – Geschichten von Morgen“ (Suhrkamp) erschienen. Da beide Autoren dieselben philosophischen Aspekte berühren, wirkt der Film noch lange nach, und das nicht allein, weil die Geschichte unter anderem zu der Überlegung anregt, ob man bereit wäre, nach dem Tod als digitale Kopie „weiterzuleben“. Einige Punkte bleiben zudem offen; der verblüffende Schluss beantwortet nicht alle Fragen. Ein reizvolles Gedankenspiel ist zum Beispiel Linus’ Überlegung, dass die Cloud, in der die digitalen Kopien leben, einen Notausgang brauchen, damit sie im Fall eines Serverabsturzes nicht verloren gehen; aber was würde passieren, wenn sie dann in einer anderen Cloud – und somit in einer anderen Parallelwelt – auftauchen? Während des Films ist im Hintergrund immer wieder mal eine Tür mit der Aufschrift „Exit“ zu sehen, und natürlich wird sie gegen Ende eine entscheidende Rolle spielen.
Markas Umsetzung ist ohnehin faszinierend. Auf den ersten Blick wirken die Bilder sparsam, zumal die Handlung größtenteils im Hotel spielt; die seltenen Außenaufnahmen lassen eine gewisse „Blade Runner“-Atmosphäre entstehen (sie sind tatsächlich in Los Angeles gedreht worden). Allerdings sorgen Marka und sein Kameramann Willy Dettmeyer mit Hilfe der Postproduktion mehrfach für verblüffende Momente. Schon die erste Einstellung ist außerordentlich eindrucksvoll: Die Kamera beobachtet eine Strandszene, und während sie sich langsam zurückzieht, verwandelt sich das Bild in eine Urlaubskarte („Grüße aus dem Paradies“). Der Kühlschrank, an dem die Karte hängt, steht in einer Küche. Eine alte Frau hantiert mit Gemüse und schneidet sich in den Daumen, aus dem ein Blutstropfen hervortritt. Er ist schwarz, denn die Frau – es handelt sich um Linus verstorbene Mutter – ist eine digitale Kopie. Damit sich die Realität von der Fiktion unterscheiden lässt, hatte Luca die Idee, dass virtuelle Personen schwarzes Blut haben. Mit Hilfe eines entsprechenden Tests vergewissert sich Linus später, als ihm Bahl Paranoia vorwirft, seines analogen Selbst. Aber wie lässt sich dann erklären, dass er ähnlich wie der Held in Peter Weirs „Truman Show“ an die Grenzen seiner Existenz stößt: Die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit aus Lis Hotel endet in einem Dasein aus schwarzem Nichts, durch das gelegentlich elektronische Impulse zucken; als hätte Gott vergessen, das Nirwana zu programmieren.
Allein die Tatsache, dass „Exit“ Stoff für endlose Diskussionen dieser Art liefert, ist schon ein Qualitätsmerkmal, zumal Yesilkaya und Marka eine ganze Reihe solcher Rätsel liefern. Wer ist zum Beispiel das Wesen, das regelmäßig bei flackerndem Licht durch die Hotelflure geistert? Als die Beleuchtung vorübergehend erlöscht, sind nur noch zwei rot glühende Augen zu sehen; ein Moment wie aus einer Stephen-King-Verfilmung. Die 400 von der Firma Lugundtrug umgesetzten visuellen Effekte (Frank Kaminski, Philip Nauck) waren sicher nicht billig und sind entsprechend eindrucksvoll, allen voran die Holo-Kontaktinsen, mit deren Hilfe sich Linus und seine Freunde im Cyberspace treffen können. Sehr sympathisch ist dagegen die Idee, die virtuelle Realität mit Anleihen aus der analogen Welt auszustatten und so originelle sinnliche Metaphern zu schaffen: Nach Lucas Verschwinden hofft Linus auf Hinweise in ihrem Mail-Ordner, der durch einen klassischen Postbriefkasten symbolisiert wird; Sinnbild für das Hacker-Programm, mit dem er sich Zugang verschafft, ist ein Brecheisen.