Die Schüsse von Sarajewo, die Ermordung des ungeliebten österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand, beschwören eine außenpolitische Krise herauf – als Tat, die ein gesamteuropäisches Kriegsszenario nach sich ziehen könnte, sah man sie zunächst nicht an. Doch unter dem Einfluss der beiden defensiven Militärbündnisse England, Frankreich, Russland vs. Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien nimmt der lokale Balkankonflikt rasch größere Dimensionen an. Die österreichisch-ungarische Monarchie fürchtet sich vor den Nationalbewegungen auf dem Balkan – und möchte Serbien öffentlich abstrafen. Das Deutsche Reich, vom rasanten Aufstieg zur Großmacht beflügelt, forciert die Kriegsdrohung der Doppelmonarchie. Eine überhebliche, kriegstreibende Führung glaubt sich hinreichend gerüstet für einen Mehrfrontenkrieg (Schlieffen-Plan). Sogar die SPD stimmt den Kriegskrediten zu. Sodann verkündet Kaiser Wilhelm II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Der Grundstein zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ mit zehn Millionen gefallenen und 20 Millionen verwundeten Soldaten, mit sieben Millionen getöteten Zivilisten und einer Million verhungerter Menschen ist gelegt.
Das Dokumentarspiel „Europas letzter Sommer“ schildert die dramatischen fünf Wochen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im Sauseschritt bewegen sich die im Genre erfahrenen Bernd Fischerauer und Klaus Gietinger über das diplomatische Parkett, lassen die Regenten und die Strippenzieher im Hintergrund ausgiebig zu Wort kommen und geben damit eine Gesamtschau der politischen Lage Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den Hinterzimmern der Macht, in den Clubs und Cafés von Wien und Berlin wird man Zeuge strategischer Ränkespiele, in denen die Militärs bald das Sagen haben. Das Schicksal Europas wird heruntergebrochen auf die Kommunikation einiger Stehkragenträger. Krieg oder Frieden in Europa – die Entscheidung darüber hängt am seidenen Faden der Diplomatie.
Für wen, für welche Zielgruppe, BR alpha „Europas letzter Sommer“ produziert hat, ist schwer zu sagen. Wer wenig weiß von den Ereignissen, die den Ersten Weltkrieg heraufbeschworen haben, wird nicht viel mitbekommen in dem 90-minütigen Dialog-Stakkato, dem ständigen Hin und Her zwischen den deutsch-österreichischen Machtzentren. Und wer die geschichtlichen Hintergründe, die komplexen Motivationen und Entscheidungsfindungen der Staatslenker Europas um das Jahr 1914 weitgehend kennt, dem dürfte das spröde Kammerspiel keinen Mehrwert bringen. Der Film ist gemacht wie ein Hörspiel, flankiert von historisch kostümierten Talking Heads. Gezwirbelte Bärte, steife Kragen, staatstragende Glätzen und das tiefe Dekolleté von Julia Stemberger – mehr Sinnlichkeit gibt es nicht in dieser ziemlich unsinnigen Form von Schulfernsehen, in dem man ohne Schulbuch oder die Pausetaste der Fernbedienung aufgeschmissen ist. „Sie reden, als ob so ein Krieg ein Spaziergang wäre“, heißt es im Film. „Europas letzter Sommer“ tut, als ob ein Dokumentarspiel über den Krisen-Juli 1914 zu machen, filmisch ein Kinderspiel wäre.