„Unsere Augen gewöhnen sich sehr unterschiedlich an die Dunkelheit. Das müssen wir berücksichtigen.“ Diese Mahnung sollte der Zuschauer ernst nehmen. Zu Anfang von „Euer Ehren“ bestimmt sie die Herangehensweise des Richters Michael Jacobi (Grimme-Preisträger Sebastian Koch) an ein aktuelles Verfahren. Sie deutet aber auch an, wohin die Reise geht. Und sie ist ein guter Ratschlag für alle, die hier einsteigen. Zwei Drittel der Einstiegsfolge spielen in der Nacht. Eine Nacht, die Jacobis Leben verändern wird. Die Fallhöhe ist durch den Serientitel vorgegeben. Der makellose Richter wirft alle Skrupel über Bord, um seinen Sohn zu retten. Julian (Taddeo Kufus) hat einen Motorradfahrer angefahren und Unfallflucht begangen. Was nach einem reparablen Fehltritt aussieht, wird zur lebensbedrohlichen Tragödie, als Jacobi von der Identität des Opfers erfährt. Slatan ist der Sohn eines serbischen Mafiachefs, den er für zwölf Jahre ins Gefängnis gebracht hat. Auf keinen Fall darf der Clan erfahren, wer hier hinterm Steuer saß. Jacobis Notfall-Plan: Den Unfallwagen mithilfe des ihm verbundenen Zollbeamten Franz Brunner (Sascha Gersak) verschwinden zu lassen und als vermisst zu melden. Aber schon jetzt geht etwas schief, treten Gegenspieler und ahnungslose Zeugen auf den Plan. Sie zwingen Jacobi, im Sekundentakt umzudenken.
Verrinnende Zeit zeigt „Euer Ehren“ als Countdown von Schrecksekunden. Regisseur David Nawrath verlinkt den Schrecken oft mit Licht. Das grelle Licht eines plötzlich aufleuchtenden Bewegungsmelders raubt Jacobi die Deckung, das Blinken eines Abschleppwagens akzentuiert sein ratloses Gesicht, das Licht aus einem sich öffnenden Fahrstuhl betont sein bleiches Antlitz, als er von einem Tod erfährt, den er zu verantworten hat. Panik und Schuld werden hier in Lux gemessen. Parallel dazu verliert der Richter an Fassung und Statur. Mal ist es eine Nachlässigkeit an seinem Anzug, mal eine Schramme im Gesicht, mal eine Einstellung, die sein ungepflegtes Haar betont. Die Geschwindigkeit, in der Sebastian Koch in der Rolle des Michael Jacobi altert, steht der seines US-Pendants aus „Your Honour“ in nichts nach. Wer Bryan Cranston fallen sehen will, sollte sich den 21. März vormerken. Ab da läuft die zehnteilige US-Version der Serie jeweils montags in Doppelfolgen auf Sky Atlantic.
Zurück nach Innsbruck: Produzent Al Munteanu (Square One Productions) wollte die israelische Serie „Kvodo“ (2017) seriell wie cineastisch erzählen. Munteanu und Nawrath (der mit David Marian auch das Drehbuch schrieb) suchten nach einem schnell erkennbaren Ort, der sich gleichermaßen befremdlich und furchteinflößend in Szene setzen lässt. Sie fanden abgelegene Alpentäler und ein kaltes Innsbruck, färbten Stein in fahles Blau und verwischten die Konturen. Die Kamera (Tobias von dem Borne) bewegt sich durch Landschaften, die von Autobahntrassen zerschnitten werden. Im Hintergrund dräut eine graue Bergwelt, die den Blick ins Weite verstellt. Eine cineastisch schnörkellos konsequente Kulisse, an der sich nicht viel verändert. Die Stadt ist grau, farbiges Licht akzentuiert nur Innenräume, in den Tälern schneit es ohne Unterlass. Die Menschen haben gelernt, stoisch durch den Winter zu gehen. Zu ihnen zählt die Kommissarin Gabriele Kirchner (Ursula Strauss, nüchtern, geradeaus), die, in gedrosseltem Tempo, aber deshalb nicht ungefährlich für ihren Duz-Freund Jacobi, der Wahrheit auf der Spur ist. Und Fleischproduzent Uli Lindner. Der aalglatte Großunternehmer mit Verbindungen ins Drogengeschäft ist eine mehr als dankbare Rolle. Trotzdem möchte man vom ersten Auftritt an ein Loblied auf Tobias Moretti singen. Mit schlimmster Frisur gesegnet, spielt er einen Testosteron-durchwalkten Alpenkönig, der mal eiskalt, mal kumpelhaft agiert, mal italienisch, mal tirolerisch flucht, mit einer Attitüde, die an Markus Söders volkstümliche Auftritte erinnert, Feinde umarmt und sein Revier absteckt. Die Pflöcke schlägt sein Mann fürs Grobe ein. Wo Morettis Lindner sich kaum bremsen kann, senkt sein Befehlsempfänger Muhr (Rainer Bock) nur den Blick und deutet ein Nicken an. Wird erledigt, heißt das.
Gegen das wuchtige Doppel Moretti/Bock haben die eher grob gezeichneten Mitglieder des Serben-Clan und Paula Beer als Clan-Erbin Arija, die sich ihrer Wurzeln besinnt, einen schweren Stand. Die Clan-Mitglieder (ausgenommen Ercan Durmaz als Arijas Onkel) verblassen zu einer konturlosen Masse aus finster blickenden Befehlsempfängern. Und warum die zarte Arija, die ans Krankenbett ihres Bruders Slatan reist, die Familiengeschäfte übernehmen will, anstatt sich weiterhin eine Karriere in besten Londoner Kreisen zu erarbeiten, wirkt wenig plausibel. Ein Wutanfall gegenüber der Schwiegermutter in spe reißt den Graben auf, sorgt für eine gute Szene, reicht aber nicht, um die Motivation zu erklären. Aber Psychologie ist eben nicht alles in einem guten, packenden Thriller. Fernsehen darf heute auch Kintopp sein. Und dieser Sechsteiler steht in bester Gangsterfilm-Tradition à la Jean-Pierre Melville – im Zentrum ein Würdenträger mit weißer Weste zu Beginn, am Ende klebt auch an seinen Fingern Blut. Die Motive: Schuld, Verrat, Rache und der Verlust aller Werte.
In den ersten vier Episoden von „Euer Ehren“ entfacht die Vertuschung des Unfallhergangs einen Krieg auf mehreren Ebenen – und kehrt immer wieder zu Jacobi zurück. Im Gegensatz zu den Antagonisten agiert Sebastian Koch eher verhalten. Das Gros seiner Verzweiflung drückt sich in Blicken aus. Sein Gesicht versteinert zusehends. Kein leichtes Spiel für Koch, der an der dramaturgischen Bearbeitung des Stoffes beteiligt war. Episode vier unterfüttert den einsamen Kampf des Richters dann mit einem neuen Subtext. Jacobis Frau hat sich vor zwei Jahren das Leben genommen. Warum, bleibt unklar. Existent ist sie nach wie vor. Bilder der Künstlerin hängen in einem großen Haus, das sich jetzt nur noch Vater und Sohn teilen. In dem sie nur in der Not zueinander finden. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist in den Erzählsträngen von „Euer Ehren“ immer präsent. Bei Jacobi, der seinen Sohn schützen will, bei Clan-Chef Sailovic, der seine Tochter aus dem Drogengeschäft raushalten will, und bei einer Mutter, deren Sohn Sascha (Jack Hofer) als Sündenbock herhalten muss und dadurch in tödliche Gefahr gerät. Die mittellose Christina Zuber (Gerti Drassl) kann die Wahrheit sagen und diesen Sohn retten oder eine Lüge decken, die ihr, ihrem zweiten Sohn und ihrem Enkel das Geld zum Weiterleben sichert. Jenseits der Welt der Reichen und Honorigen spielt sich auf dem Hof der Zubers die traurigste Variante dieser Eltern-Kind-Tragödien ab.
Zum Finale wechselt der zurückgenommene Sound zunehmend von dunklen Streichern zu trockenen Schlägen. Der Blutzoll vergrößert sich und Jacobis Sohn eröffnet dem Vater eine Wahrheit, von der er nichts wusste. Jacobis letzter Notfallplan, der mehr Einfluss versprechende berufliche Aufstieg zum Generalsekretär des Justizministers (sehr gut: Andreas Lust), ist da bereits gescheitert. Erst eine letzte Wendung führt ihn unter anderen Vorzeichen an dieses Ziel und besiegelt Aufstieg und Fall zugleich. Ein dramaturgisches Problem von „Euer Ehren“ wird zum Finale hin offensichtlich. Größe und Glanz der Gegenspieler werfen enorm große Schatten, in denen das eigentliche Drama um Jacobi außer Blickweite zu geraten droht. Es gibt Momente, in denen „Euer Ehren“ dem im Zentrum stehenden Richter neue Facetten verleiht. Durch einen surrealen Wink, eine Traumsequenz oder einen Verweis auf die Erinnerung Jacobis auf seine verstorbene Frau. Es bleiben Momente. (Text-Stand: 15.3.2022)