Filme über Entführungen haben einen besonderen Reiz, erst recht, wenn Kinder betroffen sind. Natürlich resultiert die Spannung vor allem aus der Frage, ob der Junge oder das Mädchen überleben und die Kidnapper gefasst werden. Aber auch Empathie spielt eine große Rolle, einerseits mit den Gefangenen, andererseits mit den Angehörigen; für Eltern muss die qualvolle Ungewissheit die Hölle auf Erden sein. Zumindest von außen betrachtet ist für Johannes Erlemann, zum Zeitpunkt seiner Entführung im Frühjahr 1981 elf Jahre alt, alles gut gegangen. Vielleicht ist das der Grund, warum das Ereignis nicht annähernd so nachhaltig in Erinnerung geblieben ist wie der Fall des Bankierssohns Jakob von Metzler (2002); der ebenfalls elfjährige Junge hat seine Entführung im Jahr 2002 nicht überlebt.
Dass der RTL-Film „Entführt – 14 Tage überleben“ bei Weitem nicht die Qualität von Stephan Wagners unter anderem mit dem Grimme-Preis ausgezeichnetem Drama „Der Fall Jakob von Metzler“ (2012) erreicht, hat viele Gründe. Einer hat mit dem historischen Hintergrund zu tun: Der Frankfurter Polizeipräsident Wolfgang Daschner hat dem Entführer damals Gewalt angedroht, um zu erfahren, wo der Mann den Jungen versteckt hält. Eine derartige Ebene hat das Drehbuch von Béatrice Huber (Bearbeitung: Marcus O. Rosenmüller) nicht zu bieten, dafür aber einen Glamourfaktor: Jochem Erlemann war Ende der Siebziger eine schillernde Persönlichkeit. Mit mehr oder minder windigen Abschreibungsprojekten half er betuchten Zeitgenossen, viele Steuern zu sparen. Im Winter 1980 wurde er verhaftet. Als einige Monate später sein Sohn entführt wurde, geriet Erlemann prompt in Verdacht, Drahtzieher des vermeintlichen Verbrechens zu sein.
Foto: RTL / Tom Trambow
Der 105 Minuten lange Film widmet diesem Hintergrund einen ausführlichen Prolog. Im Stil des klassischen Sparkassen-Werbespots („Mein Haus, mein Auto, mein Boot“) gibt Regisseur Marc Rothemund einen flott montierten Einblick in den „Genuss ohne Reue“-Lebensstil der Familie. Dieses erste Kapitel dauert über zwanzig Minuten; trotzdem wird nicht klar, auf welche Weise Erlemann (Torben Liebrecht) seine Reichtümer angehäuft hat. Als Gattin Gabi (Sonja Gerhardt) ihren Sohn mit einem weißen Porsche-Cabrio zur Schule fährt, lästern Mitschüler, demnächst würde er wohl mit dem Helikopter abgeholt. Einen Hubschrauber besitzt die Familie zwar nicht, aber dafür einen Learjet mit dem Kennzeichen D-COOL; zur Einführung in die abgehobene Welt der Familie erklingt der Boney-M-Hit „Daddy Cool“. Zuvor hatte Erlemann den Gästen seines Sommerfestes 10.000 Mark in Aussicht gestellt, wenn einer den Korken der Champagnerflasche fange, die er gerade öffnete. Dabei zielte der Filou allerdings in den Pool. Die Unterstellung des Polizisten, die Entführung sei ein großer Schwindel, ist nachvollziehbar.
Der Tonfall des Films ändert sich indes bereits deutlich vorher: Erst wird beim älteren Sohn eine seltene Form von Kinderkrebs entdeckt, dann wird Erlemann verhaftet. Sein Eigentum wird gepfändet, die Konten werden eingefroren, weshalb Gabi später das geforderte Lösegeld, drei Millionen Mark, bei Freunden und in der Familie einsammeln muss. Auch die Anmutung wandelt sich radikal: Aus dem Sittengemälde wird ein düsteres Kammerspiel. Der Junge wird in einen finsteren Verschlag gesperrt; weitere Szenen spielen im Besuchsraum des Gefängnisses. Erlemann senior rückt jedoch in den Hintergrund, Hauptfigur ist neben Johannes nun Gabi.
Foto: RTL / Tom Trambow
Soundtrack: Boney M („Daddy Cool“), John Lennon („Imagine”), Supertramp („The Logical Song”), Electric Light Orchestra („Mr. Blue Sky”), Pink Floyd („Shine On, You Crazy Diamond”), Visage („Fade To Grey”), Queen („Killer Queen”), Earth, Wind & Fire („September”), Joe Jackson („Steppin’ Out”)
Kinderdarsteller wirken oft unnatürlich, wenn sie eine Rolle spielen müssen, aber der junge Cecilio meistert die Herausforderung in fast allen Szenen bemerkenswert gut; das gilt längst nicht für alle Mitwirkenden. Als Jetsetter und Lebemann ist Torben Liebrecht durchweg überzeugend, in den ungleich wichtigeren familiären Momenten allerdings nicht, da wirkt er stellenweise recht hölzern. Andere Ensemblemitglieder bekommen ohnehin kaum Gelegenheit, mehr aus ihren Figuren zu machen, als die zwei, drei Schlagworte der mutmaßlichen Rollenbeschreibung hergeben. Wie so etwas dennoch funktionieren kann, zeigt Jonas Nay, der mit kleinen Auftritten große Wirkung erzielt. Anders als sein Chef bezweifelt der Polizist, dass Erlemann die Entführung fingiert hat; seine kriminalistische Kleinarbeit führt schließlich zur Verhaftung der Verbrecher.
Rothemund steht bis auf wenige Ausnahmen (darunter das vielfach ausgezeichnete Drama „Sophie Scholl – Die letzten Tage“, 2005) für zumeist sehenswerte (Tragi-)Komödien. „Entführt“ wirkt jedoch, als habe er keinen Zugriff auf den Stoff gefunden. Die Inszenierung verzichtet zwar auf spekulative Elemente, auch die Musik ist sehr zurückhaltend, aber die Emotionen übertragen sich nicht. Das stärkste vermittelte Gefühl ist Empörung, als der Soko-Leiter den Jungen in eine Kiste steckt, um seinen Erinnerungen auf die Sprünge zu helfen. Vielleicht wäre dem Stoff eine sachliche Umsetzung im Stil der Ingo-Thiel-Filme mit Heino Ferch (ZDF) gerechter geworden. Wirklich authentisch wirken abgesehen von Nay allein die Darsteller winziger Nebenrollen. Das gilt auch für das Zeitkolorit: Das Ensemble erinnert zum Teil an kostümierte Gäste einer Achtziger-Party. Das Zeitgefühl entsteht vor allem durch die Hits jener Jahre. (Text-Stand: 23.8.2023)