Ella Schön – Feuertaufe / Schiffbruch

Annette Frier, Julia Richter, Rost/Rössler, Holger Haase. "Nicht anfassen, bitte"

Foto: ZDF / Marc Vorwerk
Foto Rainer Tittelbach

Hausbrand, Jobverlust, die Aussicht, die Zelte auf der Insel abzubrechen, ein Unfall mit Fahrerflucht, kleine & größere Lebenslügen, Abnabelungsprozesse und Kommunikations-Probleme, eine Klage über 50.000 Euro: Die Drehbücher bieten viel dramatischen Stoff. Was allerdings bei anderen Unterhaltungsfilmreihen deutlich ein Zuviel ist vermittelt sich bei der ZDF-Reihe „Ella Schön“ (Dreamtool Entertainment) anders. Durch die elegante Variation der klassischen Fall-Dramaturgie emanzipiert sich die Reihe deutlich vom Helfer*innen-Genre. Familie steht im Mittelpunkt. Selbst die juristischen Probleme kreisen um das Stammpersonal der Reihe. Das stärkt die Charaktere. Das psychologische Konzept ist ohnehin (lebens)klug ausgedacht: das Miteinander von Verstand und Gefühl, die auf zwei prototypische Charaktere übertragen werden, die durch ihr Zusammenleben versuchen, eine Symbiose herzustellen. Auch die Dialogwechsel sind Quell bester Unterhaltung, das Ensemble kann für das „Herzkino“ nicht genug gelobt werden; das Gleiche gilt ebenso für die Inszenierung.

Das Leben der Patchworkfamilie um Ella Schön (Annette Frier), die Anwaltsreferendarin mit Asperger-Syndrom, und die alleinerziehende Christina Kieper (Julia Richter) erfährt eine Zäsur, nachdem ihr Haus auf Fischland abgebrannt ist. Für die dreifache Mutter ist es selbstverständlich, dass alle fünf ihre WG-Situation fortsetzen und sich gemeinsam eine neue Bleibe suchen, die Autistin allerdings will ihre eigenen Wege gehen – und zieht erst einmal ins Hotel. Da Anwalt Kollkamp (Rainer Reiners) sie vorläufig nicht länger beschäftigen kann, ist sogar die Rückkehr nach Frankfurt für sie eine Option. Christina ist enttäuscht von ihrer Freundin und sie ist genervt: Das beengte Wohnen auf dem Hausboot ihrer Mutter (Lina Wendel) tut sein Übriges. Der Kontakt zu Ella bricht allerdings nicht ab, da Christinas Sohn Ben (Oscar Brose) und seine Freundin Juli (Lara Feith) in einen Autounfall mit Fahrerflucht verwickelt sind – und sich die Frau mit dem untrüglichen, analytischen Blick bereit erklärt zu helfen. Die Arbeit mit den Paragrafen lenken Ella ab. Der Verlust ihres Hauses hat sie stärker verunsichert, als es ihre rationale Gedankenwelt zulässt. Auch sie muss den psychischen Schock erst mal verdauen. Ihrer mentalen Disposition entsprechend: allein. Und da sie noch mehr Gefühlschaos nicht aushalten kann, macht sie auch mit Jannis (Josef Heynert) Schluss.

Bewertung im Detail: „Feuertaufe“ bekommt zarte 5 Sterne, „Schiffbruch“ – was die Fall-Dramaturgie angeht – ein bisschen konventioneller, erhält 4,5 Sterne.

Ella Schön – Feuertaufe / SchiffbruchFoto: ZDF / Marc Vorwerk
Das Leben kann grausam sein. Ella (Annette Frier), Christina (Julia Richter) Ben (Oscar Brose) und Klara (Zora Müller) müssen aus der Ferne mitansehen, wie ihr Haus lichterloh brennt. Ella findet das „ungut“. Ihr Leben verliert an Struktur. Sie wird am Ende stärker unter dem Verlust leiden, als es ihre Asperger-Gedankenwelt zulässt.

Gefühle bleiben für die Titelfigur der ZDF-Reihe „Ella Schön“ fremdes Terrain. In „Feuertaufe“ treibt ihr die unklare Lage und das abgebrannte Haus immerhin Tränen in die Augen, aber in der Interaktion mit Menschen – für eine Asperger-Persönlichkeit schwer genug – zieht sich die Beinahe-Anwältin stets auf das rein Faktische zurück. Christina ist völlig anders gestrickt. Gerade jetzt, in der häuslichen Notlage, benötigt sie Unterstützung, und sie fühlt sich durch Ellas Verhalten verletzt. In „Schiffbruch“, der zweiten neuen Episode, wittert sie sogar Verrat, als Bens Vater Nils (Marc Ben Puch), Kontakt mit dem Jungen aufnehmen möchte, und sich Organisationstalent Ella ohne Christinas Wissen in das Treffen der beiden einmischt. Betrogen (um einen Teil ihrer Biographie) fühlt sie sich auch von ihrer Mutter, die von Ella vertreten werden muss, da ihr aktiver Widerstand gegen den Hotelbau von Platzhirsch Teetz (Reiner Schöne) im idyllisch gelegenen Nothafengebiet ihr eine saftige Geldstrafe einbringen könnte. Während die Gründe für die Protestaktionen auch in Katrins Vergangenheit liegen, betreffen Christinas Sorgen das Hier & Jetzt: Sie verliert ihr Zuhause, fühlt sich entwurzelt und sie muss schmerzlich erkennen, dass Ben erwachsen wird und sich abzunabeln versucht, und er zu Ella momentan einen besseren Draht hat als zu ihr.

Die Dialogwechsel sind nach wie vor ein Quell bester Unterhaltung

Ben: „Warum ist sie so?“
Ella: „Ich vermute, es liegt an dem für sie so schmerzhaften Abnabelungsprozess von dir, weil du erwachsen wirst, der von einer existenziellen Krise wegen des Verlusts des Hauses befeuert wird.“
Ben: Wenigstens bist du wie immer, Ella.“

Christina: „Interessant, wen man so alles bei so einer Besichtigung trifft.“
Ella: „Deine verspannte Schulterlinie und die verschränkten Armedeuten auf Ablehnung und einen Vorwurf hin, den du mir machst; obwohl ich nicht verstehe, was du mir vorwirfst, weil du ja selber allein zu dieser Besichtigung gekommen bist.“

Ella Schön – Feuertaufe / SchiffbruchFoto: ZDF / Marc Vorwerk
Stunden vor dem Brand war die kleine Welt auf Fischland noch in Ordnung: Ella (Annette Frier) gibt Jannis (Josef Heynert) eine Lehrstunde in lateinamerikanischem Tanz; Ben (Oscar Brose) und Freundin Juli (Lara Feith) genießen das Sommerfest.

Hausbrand, Jobverlust, die Aussicht, die Zelte auf der Insel abzubrechen, ein Unfall unter Alkoholeinfluss mit Fahrerflucht, kleine und größere Lebenslügen im Hause Kieper, die jahrzehntelang Bestand haben, Abnabelungsprozesse und Kommunikationsprobleme, eine Klage über 50.000 Euro: Die Drehbücher bieten viel dramatischen Stoff. Was allerdings bei anderen Unterhaltungsfilmreihen deutlich ein Zuviel ist, das nimmt der Kritiker bei „Ella Schön“ völlig anders wahr. Hier stolpert man nicht laufend über Situationen und Szenen, die laut „Dramaturgie!“ rufen, hier stören narrative Spiegelungen zwischen A- und B-Plot wie in der Episode „Schiffbruch“ (beide Kieper-Mütter verheimlichen ihrem Kind etwas) nicht, weil sie eingebunden sind in ein dichtes Netz lebendiger Figuren und sich die Nähe zum Alltag über die gesamten zwei Mal 90 Minuten legt. Ob man deshalb das Erzählte als realistischer einschätzen darf, das liegt wohl im Auge des Betrachters. Wahrscheinlich ist es aber eher die falsche Frage. „Ella Schön“ ist auch den Episoden fünf und sechs einfach besser erzählt als vergleichbare Produktionen. Durch die elegante Variation der klassischen Fall-Dramaturgie emanzipiert sich die Dreamtool-Entertainment-Reihe deutlich vom Helfer*innen-Genre. Die Familie steht im Mittelpunkt. Selbst die juristischen Probleme kreisen um das Stammpersonal der Reihe. Das stärkt die Charaktere und macht diese zum Herzstück der Filme.

Ein Brief von Ella an Jannis, dazu eine Rohrzange als Geschenk
„Lieber Jannis, ich weiß, dass ich manchmal wirken kann wie eine Rohrzange, nicht gerade feinfühlig, aber eine Rohrzange ist nun mal keine Pinzette und man kann ihr wohl deshalb keinen Vorwurf machen. Dafür ist sie außerordentlich praktisch und eigentlich sollte jeder eine haben. Ich würde dich gerne sehen…“

Ein Kompliment & die Antwort. Jannis: „Tolles Kleid, du siehst gut aus.“
Ella: „Ja, der Saum sitzt tief, und der Schnitt ist unbequem. Ich fühle mich unwohl.“

Ella Schön – Feuertaufe / SchiffbruchFoto: ZDF / Marc Vorwerk
Eine Nacht bei Jannis (Josef Heynert) nach dem Brand reicht Ella (Annette Frier) fürs Erste. Die Frau, die mit dem Asperger-Syndrom leben muss, braucht Distanz zu den Menschen, damit das Chaos nicht noch weiter zunimmt. Die beiden befinden sich in einer typischen On-Off-Beziehung, mit der keiner von beiden so richtig glücklich ist.

Bisher bekam bei Kritik und Zuschauern die Titelfigur die größte Aufmerksamkeit. In den neuen Episoden lässt sich nun das psychologische Konzept der Reihe besonders gut erkennen: das Miteinander von Verstand und Gefühl, die abgespalten und auf zwei prototypische Charaktere übertragen werden, die durch ihr Zusammenleben versuchen, eine Symbiose herzustellen. Dieser Gegensatz bricht wieder auf, als die beiden auf den Trümmern ihres Hauses, ja, ihrer Existenz, stehen. Ella sagt, es gehe ihr gut. „Ich bin gesund, satt und verspüre eine angenehme Müdigkeit, und an der Situation mit dem Haus kann ich nichts ändern.“ Ganz anders Christina: „Ich habe keine Cloud für meine Erinnerungen.“ In dieser Konstellation spiegelt sich ein menschlicher Urkonflikt. Als Zuschauer kann man zwischen beiden Befindlichkeiten hin- und herschwingen. Man kann mit Julia Richters Figur mitfühlen, und man kann von Annette Friers Ella, die wieder fast ohne ein Lächeln auskommt, auf seltsame Weise fasziniert sein, denn ihre kleinen verbalen Meisterstücke in Logik und mathematischer Philosophie sind mehr als köstlich. Außerdem bietet diese Figur die Möglichkeit, die Beziehungen auf einer Meta-Ebene zu analysieren und ihnen auch die kleinste Spur von Küchenpsychologie zu nehmen. „Ich denke, Ihr habt beide die Tendenz, großen Konflikten auszuweichen, indem Ihr eure Aufmerksamkeit auf hochstilisierte Nebenschauplätze lenkt.“ Die nichts beschönigende Ella Schön wirkt – während andere in ihrer Seele Nebelkerzen zünden – geradezu wie ein Katalysator, der die (verdrängte) Wahrheit ans Licht bringt.

Mehr mit Christinas Herz-Note als mit Ellas kühlem Verstand hält es die Film-Sprache von Regisseur Holger Haase, Kamerafrau Monika Plura und Cutter Torsten Lenz. Die Inszenierung ist einfallsreich, stilvoll, in Außenaufnahmen, besonders in Szenen bei Nacht, häufig atmosphärisch, aber nie übertrieben pointiert. Dass die Titelfigur zwanghaft ordentlich ist, weiß man mittlerweile, das muss optisch nicht mehr betont werden wie noch in den ersten Episoden. Ihr Outfit und ihr äußeres Erscheinungsbild werden häufig kombiniert mit ungewöhnlichen Kamerapositionen: Wenn sie beispielsweise mit ihren Stöckelschuhen einen Strandbesuch macht, sehen wir in Großaufnahme, dass ihr Schuhwerk dafür weniger gut geeignet ist. Die Sorgfalt im Detail ist ein wesentliches Qualitätsmerkmal der Reihe. Immer wieder gibt es markante Einstellungen (die deprimierte Christina groß im Bild) oder launige Szenen ohne direkte Plot-Funktion: So versucht sich Ella in „Feuertaufe“ als Rezeptionistin, oder eine Szene beim Arzt setzt auf komische Verdichtung (Ella trifft Jannis, der es im Hals hat und keinen Ton herausbringt und deshalb nur die ganze Zeit Faxen macht, während Ella komische Dinge sagt – für den Zuschauer). Und dort, wo sich andere Unterhaltungsfilme mit einem konventionellen Happy End begnügen, hat sich Drehbuchautorin Elke Rössler für „Schiffbruch“ eine hübsche Variation ausgedacht: So sorgt ein Stromausfall dafür, dass der Schauplatz einer aufgeschobenen Versöhnung rasch verlassen werden kann – und man mit dem ausgelösten Alarm in die nächste Szene springt, in der zu einer Ella-Schön-typischen Art von Happy-End kommt. Und siehe da, damit der plötzlich nun doch wieder begehrte Grieche von seiner Ella verstanden wird, spricht der fast schon so merkwürdig wie sie.

Ella Schön – Feuertaufe / SchiffbruchFoto: ZDF / Marc Vorwerk
Ein formidables Ensemble für einen Sonntagsfilm im ZDF: Lina Wendel, Gisa Flake, Julia Richter, Annette Frier, Rainer Reiners. Und das Schöne: Die Schauspieler müssen in „Ella Schön“ weder Kitsch-Momente spielen noch dramaturgische Versöhnungsklischees bedienen. Bei aller Überzeichnung: das Alltägliche obsiegt.

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Reihe

ZDF

Mit Annette Frier, Julia Richter, Oscar Brose, Josef Heynert, Lina Wendel, Rainer Reiners, Lara Feith, Reiner Schöne, Zora Müller, Gisa Flake, Florian Kleine

Kamera: Monika Plura

Szenenbild: Adrienne Zeidler

Kostüm: Anne Jendritzko

Schnitt: Torsten Lenz

Musik: Franziska May

Soundtrack: „Feuertaufe“ – Earth, Wind & Fire („September“), Ray Barretto („Boogaloo con Soul“), Coldplay („Adventure Of A Lifetime“), Ed Sheeran („Galaxy Girl“)

Redaktion: Corinna Marx

Produktionsfirma: Dreamtool Entertainment

Produktion: Stefan Raiser, Felix Zackor

Drehbuch: Simon X. Rost, Elke Rössler

Regie: Holger Haase

Quote: (1): 4,35 Mio. Zuschauer (12,4% MA); (2): 4,35 Mio. (12,2% MA)

EA: 25.10.2020 20:15 Uhr | ZDF

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