Wenn im Film der Nebel wallt, ist es meist Nacht und entsprechend gruselig. Am helllichten Tag sind solche Bilder allerdings sogar noch eindrucksvoller, und deshalb ist der Auftakt zum sechzehnten Krimi aus der ZDF-Reihe „Die Toten am Bodensee“ von einer gleichermaßen bezaubernden wie beunruhigenden Schönheit, denn in Seenähe schließen sich strahlender Sonnenschein und Nebelschwaden nicht aus. Die unheilverkündende Musik lässt eine romantische Stimmung jedoch gar nicht erst entstehen, und tatsächlich kommt der junge Mann, der etwas orientierungslos durch den Wald irrt und bereits eine Wunde am Kopf hat, alsbald ums Leben; aufgespießt von einem Ast, der aus seiner Brust herausragt.
Die vortreffliche Bildgestaltung bleibt das auffälligste Qualitätsmerkmal von „Nemesis“. Die Titelfigur war in der griechischen Mythologie die Göttin des gerechten Zorns; Michael Schnelting erzählt in seiner ersten Arbeit für die Reihe also eine Rachgeschichte. Zunächst rückt der Autor jedoch eine andere Frau ins Zentrum, denn das Team von der deutsch-österreichischen Stelle zur Kriminalitätsbekämpfung erhält eine neue Mitarbeiterin. Weil Hannah Zeiler einen ausgedehnten Urlaub angetreten hat, ermittelt Micha Oberländer (Matthias Koeberlin) aus Lindau nun gemeinsam mit einer deutlich jüngeren Kollegin, deren Einstand etwas unglücklich verläuft. Als der Kommissar eine Verdächtige verfolgt, die sich in der Nähe des Tatorts rumgedrückt hat, verhilft Inspektorin Luisa Hoffmann (Alina Fritsch) ihr zur Flucht: Sie hatte den Eindruck, dass der „ältere Mann“ die junge Frau bedroht. Fortan wird die auf eigenen Wunsch aus Wien nach Bregenz versetzte Radfahrerin noch einige Überraschungen offenbaren, denn sie hütet ähnlich wie einst ihre Vorgängerin diverse Geheimnisse. Außerdem hat die Kollegin eine Ausbildung für eine Spezialeinheit durchlaufen; für die neue Stelle am Bodensee ist sie völlig überqualifiziert. Das Training wiederum erweist sich als nützlich, als sie einen Mann entwaffnet, bevor der überhaupt weiß, wie ihm geschieht.
Foto: ZDF / Patrick Pfeiffer
Anders als in den Filmen nach Vorlagen von Timo Berndt, der „Die Toten vom Bodensee“ mit elf Vorlagen geprägt hat wie kein anderer, erzählt Schnelting, der seinerseits rund die Hälfte der Drehbücher für die stets ausgezeichnete ZDF-Reihe „Helen Dorn“ geschrieben hat, keine Geschichte, die sich erfundene oder authentische Sagen und Bräuche der Region zu eigen macht. Interessant ist sie dennoch: Das Opfer aus dem Wald war ein junger Mann, der in einem verlassenen Bauwagen gelebt hat. Dort finden sich Fotos und Zeitungssausschnitte über den Leiter einer psychiatrischen Klinik am See. Dieser Professor Lambeck (Heikko Deutschmann) entpuppt sich umgehend als verdächtig, zumal er anscheinend eine Affäre mit einer jungen Patientin hat. Als die Frau kurz darauf ins Wasser geht, weil ihr das angeblich vom Teufel so befohlen worden ist, glauben Hoffmann und Oberländer, dass der Obdachlose von dem Verhältnis wusste und den Psychiater erpresst hat. Stella wiederum musste sterben, weil sie die verbotene Liebe publik machen wollte; nicht nur der Professor, auch seine deshalb nicht minder verdächtige Gattin hätten auf einen Schlag alles verloren. Natürlich sind die Dinge sind viel komplizierter.
„Nemesis“ ist wie alle Filme der Reihe „Die Toten vom Bodensee“ im Großraum Bregenz entstanden. Das Finale spielt auf der MS Oesterreich. Das Museumsschiff (Baujahr 1928) ist nach seiner Ausmusterung vollständig renoviert worden und kann für Ausflugsfahrten gemietet werden. Als Drehort für das Gelände der psychiatrischen Klinik diente das Lindauer Rathaus. Nora Waldstättens Nachfolgerin, die Wienerin Alina Fritsch (Jahrgang 1990), ist hierzulande noch wenig bekannt. Erstmals positiv aufgefallen ist sie gleich mit ihrer ersten größeren Rolle in dem Drama „Am Ende des Sommers“ (2015).
Foto: ZDF / Patrick Pfeiffer
Heikko Deutschmann versieht den Psychiater mit jener Arroganz, die seit einiger Zeit charakteristisch für viele seiner Rollen ist, und Jutta Fastian wirkt als verbitterte Ehefrau, die sich sogar an den Freund der Tochter ranmacht, wie eine typische Fernsehfilmfigur. Viel reizvoller sind daher die Szenen mit Martin Feifel: Stellas Vater, Hendrik Berger, ist ein seit dem Suizid seiner depressiven Frau vorzeitig pensionierter früherer Kollege von Oberländer. Die Begegnungen der beiden sind besonders berührend, weil der eine damals nicht mit dem Schmerz des anderen umgehen konnte. Davon abgesehen ist Feifel stets eine ausgezeichnete Besetzung für Männer, in deren Antlitz das Leben seine Spuren hinterlassen hat.
Regie führte Michael Schneider, der zwischen 2019 und 2021 bereits sechs Filme der Reihe gedreht hat; davon konnte allerdings nur „Der Wegspuk“ (2021) an die optische Qualität der Beiträge von Vorgänger Hannu Salonen anknüpfen. Das ist diesmal anders; Lukas Gnaiger hat schon in den Episoden „Der Seelenkreis“ und „Das zweite Gesicht“ (2021/22) mit seiner sanften Kameraarbeit und einer vorzüglichen Lichtsetzung für berückende Bilder gesorgt. Die Musik von Chris Bremus ist ohnehin stets ausgezeichnet, zumal die Melancholie seines Abspannlieds („Here Again“) diesmal erst recht ihre Bewandnis hat. (Text-Stand: 20.1.2023)