Eher lustlos trottet die Schulklasse ihrem begeisternd erzählenden Lehrer Aloys Hartl (Michael A. Grimm) bei einer mystischen Nachtwanderung durch den Wald hinterher. Als sie am Bodensee ankommen, ist es bereits Tag. Doch Schülerin Manuela ist verschwunden. Hartl rennt in den Wald zurück, sucht und findet sie, sie steht apathisch vor einem leblosen und mit Lederkappen über den Händen gefesselten Mann. Er wurde ermordet. Ein Fall für die Kommissare Micha Oberländer (Matthias Koeberlin) und Hannah Zeiler (Nora Waldstätten). Das Opfer heißt Sebastian Weidinger, ist im Ort überall bekannt und wurde mit Utensilien gefesselt, die aus dem Heimatkundemuseum stammen und die Geschichte des mittelalterlichen Stumpengangs erzählen, bei dem Straftäter mit „Lederkelchen“ über den Händen gefesselt und hilflos gemacht wurden. Dann wurden sie im Wald ausgesetzt und gejagt. Wer überlebte, war frei, die meisten kamen jedoch um. Wollte der Mörder mit dieser Tötungsform etwas aufzeigen? Oberländer und Zeiler finden schnell heraus, dass der Getötete zwischen zwei Frauen stand: Seiner Noch-Gattin Lisa (Bernadette Heerwagen), die mit ihrem Sohn Lukas (Béla Gabor Lenz) zusammen lebt, und seiner neuen Lebensgefährtin Natascha Schwärzler (Barbara Romaner), die im Haus ihres Bruders Meinhardt Hager (Harald Windisch) lebt. Beide Frauen und auch der junge, wilde Lukas zählen zum Kreis der Verdächtigen.
Foto: ZDF / Petro Domenigg
Im achten Film der Reihe „Die Toten vom Bodensee“ ist das Spiel mit deutschen und österreichischen Befindlichkeiten im Grenzkommissariat deutlich in den Hintergrund gerückt, Und auch das Verhältnis zwischen den Kommissaren Hannah Zeiler und Micha Oberländer ist entspannter. Klar, sie frotzeln sich noch ein wenig an, aber das ist nicht mehr so dominant und bemüht wie zuweilen in früheren Fällen. Bei der Krimistory setzt Autor Timo Berndt, der mit „Stumpengang“ bereits den sechsten der bisher acht „Bodensee“-Krimis geschrieben hat, auf die Farbe Mystery. Er arbeitet mit Ritualmorden und dem Bezug zum Mittelalter. Das schafft eine geheimnisvolle Grundstimmung. Inspirieren ließ er sich dazu von den bestehenden Kreuzwegen rund um den Bodensee, die für den Leidensweg Christi stehen. Und von der Ehrenstrafe, die in dieser Gegend im Mittelalter praktiziert wurde. Hierbei wurden Straftäter öffentlich gedemütigt und bei der damals gängigen Leibes- und Lebensstrafe einzelne Körperteile verstümmelt oder der Straftäter gebrandmarkt. „Die Verurteilung, die brutale Bestrafung und der öffentlich zur Schau gestellte Sühnegang des Straftäters dienten uns als Ausgangspunkt. Wie auf einem Kreuzweg wird jemand für sein Vergehen bestraft und muss verschiedene Stationen und Leiden durchlaufen“, so Berndt. Ein meist tödliches Martyrium.
Diese Historie verbindet der Autor mit einem Mordfall zu einem Familien- und Beziehungs-Drama, das er wendungsreich entwickelt. Wechselnde Fährten, die die Ermittler verfolgen, bringen Spannung bis zum Ende. Es geht um klassische Motive wie Liebe, Verlust und Rache. Regisseur Michael Schneider, Krimispezialist (von „SOKO“ über „Wilsberg“ bis „Tatort“) hat die Story unaufgeregt und klar in Szene gesetzt. Sein Ensemble von Bernadette Heerwagen über Michael A. Grimm bis Harald Windisch lässt er eher zurückgenommen agieren. Die Langsamkeit und Ruhe der Inszenierung passt gut zum Leben in dieser ländlich geprägten Region. Klar, der Bodensee selbst spielt dieses Mal eine deutlich untergeordnete Rolle, den bildlichen Reiz verbreitet der Wald, in dem der Mord (ein zweiter wird folgen) geschah. Das Spiel mit Licht & Schatten, Hell & Dunkel verleiht den Szenen im Wald eine düstere Note.
Foto: ZDF / Petro Domenigg
„Die Toten vom Bodensee – Stumpengang“ ist ein atmosphärisches Familiendrama. Neben der eigentlichen Krimigeschichte nimmt die private Situation der beiden Kommissare großen Raum ein. Beide müssen mit der Vergangenheit abschließen, beide wollen sich einem neuen Lebensabschnitt stellen. Oberländer leidet stark unter der Trennung von seiner Frau und seiner Tochter. Er haust immer noch im VW-Bus, duscht zunächst heimlich bei seiner Kollegin im Haus. Als er erfährt, dass seine Frau einen Neuen hat, verschärft sich seine Seelenlage. Er reagiert wütend, traurig, voller Angst und Eifersucht, fühlt sich unverstanden und einsam. Hannah Zeiler muss den Tod ihres Vaters – Oberländer hat ihn in Notwehr erschossen, um Hannah zu schützen – und die Erkenntnis, dass dieser ein skrupelloser Verbrecher war, verarbeiten. Sie will einen Schlußstrich ziehen, trennt sich von allem, was sie an ihren Vater erinnert, weiß, dass der ganze Besitz – Haus oder Motorrad – nicht ehrlich erworben wurde. Sie ist allein in dieser Situation, nimmt eine vermeintlich streunende Katze auf, die ihr (zunächst) ein wenig aus der Einsamkeit hilft. Und sie merkt, dass es Oberländer ist, auf den sie sich – bei allen Unterschieden – verlassen kann. „Oberländer, sie sind mein Freund, mein einziger“, sagt sie und hat am Ende ein Zeichen der Wertschätzung für ihn parat. Nora Waldstätten und Matthias Koeberlin spielen die emotionale Verarbeitung des Erlebten und Erlittenen ihrer Figuren sehr glaubwürdig, da stimmen Gesten, Blicke, Mimik und Tonfall.
Aus alldem ergibt sich mehr Tiefe für die beiden Ermittler-Figuren. Timo Berndt setzt die horizontale Erzählweise bei Oberländer und Zeiler konsequent und überlegt fort. Wer die Vorgeschichte kennt, der sieht die Entwicklung, die die beiden Charaktere nehmen. Neueinsteigern macht es der Autor aber nicht allzu schwer, die Krimigeschichte steht für sich und wesentliche Fakten über die Vorgeschichte der Kommissare sind in Dialogform eingearbeitet. Mehr als acht Millionen Zuschauer hatte der letzte Fall „Die vierte Frau“, das war die zweithöchste Quote einer Fiction-Produktion im Jahr 2018 im ZDF. Und auch „Stumpengang“ dürfte wieder sehr gut laufen. Zwei unverstandene und einsame Suchende, im Job aneinander gebunden, dazu ein klassischer Whodunit mit einer mysteriösen Story in einer ruhigen, spannenden Inszenierung – mit dieser Mischung hat das Zweite wohl die Erfolgsformel gefunden. Und der neunte Film ist bereits abgedreht. (Text-Stand: 16.1.2019)
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