Die Unterschiede zwischen den Märchenfilmen von ARD und ZDF sind offenkundig: Während die Beiträge zur alljährlichen Weihnachtsreihe „Sechs auf einen Streich“ im „Ersten“ fast immer sonnendurchflutet sind und meistens gute Laune verbreiten, weil die Stoffe gern auch ironisch gebrochen werden, orientieren sich die Adaptionen im „Zweiten“ viel stärker an den klassischen Konventionen des Genres. Das gilt auch für „Die sechs Schwäne“.
Die Erfurter Kinderfilm GmbH hat 2008 mit „König Drosselbart“ einen der besten Märchenfilme der ARD überhaupt produziert und dabei auf exzellente Weise demonstriert, wie man einen Klassiker moderat modernisiert und einer bekannten Geschichte außerdem noch neue Seiten abgewinnt. Das diesjährige ZDF-Märchen, „Die sechs Schwäne“, ist ebenfalls eine Kinderfilm-Produktion, aber damit enden die Parallelen auch schon. Die Verfilmung hält sich streng an Geist und Gehalt der Vorlage, die Stimmung ist düster, die Bilder sind es auch. Allerdings bietet die Handlung kaum Anlass zur Heiterkeit: Als sich ein Vater wieder mal über seine sechs ungezogenen Söhne ärgert, verwünscht er sie. Prompt zieht Nebel auf, und die Jungs verwandeln sich in Schwäne. Das ist hart, keine Frage, aber diesmal haben sie’s auch wirklich zu weit getrieben: Erst stecken sie mit ihrem Unfug eine Scheune in Brand, sodass die Mutter vor lauter Aufregung eine Frühgeburt erleidet, doch anstatt für eine Nottaufe Wasser aus dem See zu holen, werfen sie den Krug so lange hin und her, bis er zerbricht.
Doch der Vater war etwas voreilig, das siebte Kind des Ehepaars ist ein Mädchen, Constanze, und die erfährt erst 18 Jahre später, was an ihrem ersten Geburtstag passiert ist; der Vater hat die Söhne all die Jahre lang totgeschwiegen, die Mutter ist irgendwann an gebrochenem Herzen gestorben. Voller Gram rudert Constanze auf den See hinaus, wo ihr die Schwäne erscheinen und ihr mitteilen, wie sie den Fluch rückgängig machen kann: Sie muss sechs Jahre lang schweigen und jedem einzelnen ein Hemd aus Brennnesseln nähen. Sie verlässt den Hof, baut sich eine Behausung im Wald und begegnet dort prompt dem unvermeidlichen Prinzen (André Kaczmarczyk), der umgehend vom Liebreiz der holden Maid fasziniert ist. Dass sie nicht viel sagt, stört ihn nicht weiter, und Autorin Inés Keerl verkneift sich jede entsprechende Ironie. Nun könnten die beiden glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage leben, wäre der Prinz nicht mit einer Mutter (Julia Jäger) geschlagen, die unter dem Einfluss ihres bösartigen Beraters alles tut, um die offenkundig nicht standesgemäße Liaison zu verhindern. Erst setzt sie allerlei garstige Lügen in die Welt, um Constanze beim Gesinde zu desavouieren, und schließlich fädelt sie ein derart durchtriebenes Komplott ein, dass die junge Frau als Mörderin des eigenen Kindes gilt und als Hexe auf dem Scheiterhaufen landet.
Julia Jäger passt perfekt in die Szenerie. Wo die bösen Gegenspielerinnen der Heldinnen in den ARD-Märchen mitunter zu dick auftragen, ist Jäger einfach nur kühl und emotionslos und daher viel furchterregender als die lautstarken Kolleginnen. Um so stärker ist naturgemäß der Gegensatz zu Sinja Dieks in erster ersten Hauptrolle. Ihre Herausforderung war groß, weil sie ja abgesehen von Anfang und Ende den ganzen Film hindurch kein Wort sagen darf. Falls je die Gefahr bestand, dass die unerfahrene Schauspielerin mimisch übers Ziel hinausschießen könnte, so hat Regisseurin Karola Hattop („Wer küsst schon einen Leguan?“, ebenfalls für Kinderfilm) das gut zu verhindern gewusst. Abgesehen von der Geräuschebene ist „Die sechs Schwäne“ über weite Strecken ein Stummfilm, was für viele Kinder sicher ungewohnt ist, aber das dürfte ihnen deutlich weniger zu schaffen machen als die Düsternis der Geschichte. Hattop ist es ausgezeichnet gelungen, die bedrohliche Atmosphäre am Schloss umzusetzen, als sich, vom Prinzen abgesehen, alles gegen Constanze verschworen hat. Die damit verbundene Ausweglosigkeit könnte gerade kleine Zuschauer überfordern, zumal die böse Königin fast sadistische Züge trägt: Als sie von Constanzes Vater die Vorgeschichte des Mädchens erfährt, lässt sie zum Essen Schwan kredenzen. (Text-Stand: 1.12.2012)