Schuhverkäuferin Doreen Markowitz (Nurit Hirschfeld) balanciert mit mehreren Kartons durchs Geschäft, fällt plötzlich hin und blickt ängstlich zu dem Mann auf, der sich ihr in den Weg gestellt hat. Stumm und ohne erkennbare Regung hilft ihr der bedrohliche Typ, die Schuhkartons einzusammeln. Beim Hinausgehen raunt Leon Markowitz (David Schütter) seiner Frau im Befehlston zu: „Du kommst nach Hause.“ Dieser Angriff in der Öffentlichkeit bleibt die einzige Szene des Films, in der der Übergriff eines Mannes auf seine Partnerin zumindest indirekt zu sehen ist. Die Gewalt hinter verschlossenen Türen wird von Autor und Regisseur Lars Becker nicht in Szene gesetzt. „Die Macht der Frauen“ bedient somit keine Schaulust und versetzt das Publikum zugleich in die schwierige Lage, in der sich auch Polizei und Justiz bei der Aufklärung von Verbrechen im häuslichen Umfeld befinden. Denn es gibt häufig keine Zeugen, Nachbarn wollen sich lieber nicht einmischen und Aussage steht gegen Aussage – sofern sich das Opfer nach oft langem Zögern überhaupt dazu entschließt, sich gegen den eigenen Partner zu wenden. In Doreens Fall spielt noch ein anderer Faktor eine verhängnisvolle Rolle, denn ihr Mann Leon ist Polizist und darf darauf hoffen, dass die Kolleginnen und Kollegen nicht so ganz genau hinschauen.
Lars Becker setzt zudem einen interkulturellen Akzent, denn Doreen hatte vor dem Angriff ihres Mannes eine Kundin mit Kopftuch bedient. Zora Khalifa (Sabrina Amali) hat aus der Distanz genug gesehen: „Das war Absicht“, erklärt sie nachdrücklich einer Kollegin Doreens, die den Zwischenfall herunterspielt. Zwar sagt auch Doreen selbst, dass Leon sie nicht absichtlich zum Stolpern gebracht habe. Doch Zora lässt sich nicht abwimmeln und reicht Doreen die Visitenkarte von Anwältin Annabelle Martinelli (Natalia Wörner): „Falls es doch Absicht war.“ Eine selbstbewusste Muslima, die sich im Gegensatz zu den unverhüllten Frauen im Schuhgeschäft der Männer-Gewalt nicht beugen will – das konterkariert einige Vorurteile, die es bei Teilen des Publikums geben dürfte. Zora hat allerdings nicht ohne Grund Martinellis Visitenkarte griffbereit. Das Kopftuch kaschiert die Verletzung am Ohr, die Ramy Khalifa (Mohamed Achour) seiner Frau zugefügt hat. Dies sei „nur ein Ausrutscher“ gewesen, beteuert Ramy. Die Therapie könne er aber leider aus Zeitgründen nicht beginnen. In diesem zweiten Fall geht es um den Faktor Prominenz: Politiker Ramy Khalifa wurde gerade zum Staatssekretär für Klima und Verkehr befördert. Wie Doreen weiß auch Zora, dass sie mit einer Anzeige gegen ihren Mann dessen Karriere beenden würde.
Foto: ZDF / Conny Klein
Beide Frauen wenden sich an Anwältin Martinelli, die von Natalia Wörner erneut mit souveräner, professioneller Sachlichkeit gespielt wird. John Quante (Fritz Karl) ist im Gegensatz zum Vorgänger-Film nicht mehr ihr Chef und Liebhaber, sondern ihr Gegenspieler. Quante vertritt den Polizisten Leon Markowitz, der seine Frau vergewaltigt haben soll. Allerdings ließ Doreen die Verletzungen nicht ärztlich dokumentieren, und der blutige Kabelbinder, den die Polizistin Tuba Söyüncü (Sonja Hurani) in Leons Wohnung findet, wird von Tuba und ihrem Kollegen Branko Dragovic (Slavko Popadic) erst einmal zurückgehalten. Spannend und – im Gegensatz zur „Nachtschicht“-Reihe Beckers – durch und durch ernsthaft wird hier erzählt, welche enormen Konsequenzen der Korpsgeist innerhalb der Polizei haben kann. Doreens Fall wächst sich zu einem tragischen Justizdrama aus. Einen wichtigen Schauplatz stellt auch das Frauenhaus dar, in das zuerst Doreen, später auch Zora einziehen. Immer wieder schrillt der Alarm, wenn sich Männer Zutritt verschaffen wollen. Statt einen Stalking-Thriller mit Schreckensmomenten zu inszenieren, setzt Becker auch hier auf ruhige Dialoge und Figuren jenseits der Erwartungen des Publikums. Das Wort im Frauenhaus führt die Prostituierte Monique Lorant (Mira Elisa Goeres), die sich von ihrem Zuhälter befreien will. Wie dieser Nebenstrang aufgelöst wird, erscheint allerdings etwas schönfärberisch. Jedenfalls gelingt es Monique, wieder mehr Macht über das eigene Leben zu gewinnen.
Die „Macht der Frauen“ ist ein vieldeutiger, vielleicht etwas missverständlicher Titel, weil er suggerieren könnte, dass Frauen an der erlittenen Gewalt Mitschuld tragen. Doch von einer Täter-Opfer-Umkehr kann in diesem differenzierten Drama keine Rede sein. Auch stehen nicht wie in einem Krimi die polizeilichen Ermittlungen und der genaue Tathergang im Vordergrund, sondern die Not der Frauen und die Schwierigkeit, Verbrechen im häuslichen Umfeld nachzuweisen. Ab und zu schlüpft Martinelli in eine ähnliche Rolle wie die einer Ermittlerin, doch vor allem ist die Anwältin eine sensible, juristisch kompetente und sich niemals plump anbiedernde Vertrauensperson. Ihre persönliche Geschichte wird beim Überraschungsbesuch der Freundinnen zum 50. Geburtstag angerissen, bleibt aber angenehm im Hintergrund. Dass der Bruch mit Quante nicht schmerzfrei ablief, wird angedeutet. Martinelli wird unabhängiger und selbstständiger. Es zeigt sich wieder einmal, dass Frauen-Figuren, die Souveränität ausstrahlen und für eine klare Haltung stehen, bei Natalia Wörner („Unter anderen Umständen“, „Die Diplomatin“) in den besten Händen sind.