Die Lebenden

Anna Fischer, Schuschnig, Zirner, Barbara Albert. "Nicht das leiseste Schuldgefühl"

Foto: SWR / Real Film
Foto Rainer Tittelbach

Mit dem 95. Geburtstag ihres Großvaters beginnt für die 25jährige Berliner Studentin Sita eine Reise in die braune Vergangenheit ihrer Familie. Ihre Recherchen ergeben: Ihr geliebter Großvater war Wachmann, Musik- und Religionslehrer in Auschwitz – und ihr Vater ist an dieser Stätte des Grauens geboren… „Die Lebenden“ ist ein starkes Plädoyer für die Allgegenwart von Geschichte. Der Film, der aussieht wie ein Wiener Beitrag zur „Berliner Schule“, überzeugt aber auch stilistisch. Die Suchbewegungen finden in den Bildern ihre mal rasanten, mal entschleunigten Entsprechungen; auch der Top-Soundtrack macht Sinn.

Sita ist 25, studiert Germanistik, dreht Videos für Castingshows und genießt das Berliner Leben in vollen Zügen. Als sie zu ihrem Großvater zu dessen 95. Geburtstag nach Wien fährt, ist sie plötzlich in einem ganz anderen Film. Im Haus ihres Vaters fällt ihr ein Bild in die Hände: ihr Opa in SS-Uniform. Damit beginnt für Sita eine Reise in die Vergangenheit. Ihre Großeltern gehörten zu den sogenannten Siebenbürgen-Sachsen. Die junge Frau will mehr wissen, doch der Vater blockt und der Großvater kann oder will sich an nichts mehr erinnern. Sita reist nach Warschau, wühlt in Archiven und hat bald die Gewissheit: ihr Großvater war Wachmann, Musik- und Religionslehrer in Auschwitz – und ihr Vater ist an dieser Stätte des Grauens geboren. Was dieser über die Jahre erfolgreich verdrängt hat, damit muss die Tochter jetzt klarkommen. Und sie will noch mehr wissen: Wie kann das sein, dass dieser liebenswerte, alte Mann eine solche braune Biographie haben konnte? Über einen Verwandten, der ein kritisches Buch über die Familie geschrieben hat, gelangt sie an Video-Interviews, in denen sich ihr Großvater zu seiner Vergangenheit äußert. Sita droht, sich in ihrer Familiengeschichte zu verlieren. Wie wird sie in ihr altes Leben zurückfinden können?

Die LebendenFoto: SWR / Real Film
Sita (Anna Fischer) ist nach Wien gefahren, um den 95. Geburtstag ihres Großvaters Gerhard (Hanns Schuschnig) zu feiern. War der liebe Opa ein Wachmann in Auschwitz?

„Ich fühle mich nicht schuldig. Ich habe nicht das leiseste Schuldgefühl.“ Diese Worte sind der Endpunkt einer Suche nach den eigenen Wurzeln, auf die sich die junge Heldin in dem Kinofilm „Die Lebenden“ macht. Vergangenheitsbewältigung und Selbstfindung sind für sie untrennbar miteinander verbunden. Diese junge coole Berlinerin dringt in eine Parallelwelt der vergilbten Fotos, der unscharfen Videobilder, der verblassten Erinnerungen. Sie scheint sich in der Geschichte ihrer Familie zu verstricken. Sogar ein bisher unentdeckt gebliebenes Loch in der Herzscheidewand wird ihr als Erbe von der Großmutter mitgegeben (dieses Motiv und dass der Fotokünstler, in den sich Sita verliebt, ausgerechnet Israeli sein muss, hätte der Film nicht gebraucht). Dass die in der Vergangenheit Suchende fortan gestärkt ihren eigenen Weg gehen wird, ohne die Vergangenheit ihrer Familie zu verdrängen, daran besteht kein Zweifel: Die Besetzung der Sita mit Anna Fischer legt diese Vermutung nahe und der Schluss des Films deutet dies an: raus aus dem schwermütigen Schwarzweiß, rein in das bunte Berlin, das aber durchaus weiterhin Räume lässt für Kritisches und Politisches, wie die Ausstellung des Fotokünstlers andeutet. Das ist denn auch eine Stärke des Films: Albert versucht, eine Brücke zwischen den Zeiten, den Generationen, den Lebens- und Überlebensstilen zu schlagen. Sita wird sich nicht wie ihr Vater mit Musik die Vergangenheit weg lügen. Sie tanzt sich allenfalls bei Musik den Frust von der Seele. Ihr wird die Zukunft gehören, weil sie mit offenen Augen durchs Leben geht (und die Geschichte wird immer ein Teil von ihr bleiben).

Eine kritische Stimme zu „Die Lebenden“:
„Doch zwischen stilistischer Ambition und persönlichem Wagnis kommt sich der Film selbst in die Quere. Einerseits essayistischer Gegenentwurf zum selbstgewissen Pathos offizieller Werke wie ‚Unsere Mütter, unsere Väter’, setzt er gleichzeitig auf die Mechanik eines konventionell erzählten Dramas, mit einer auf Identifikation getrimmten Hauptfigur und einer ordentlichen Liebesgeschichte … Insofern scheitert ‚Die Lebenden’ auf eine sehr wahrhaftige Art: suchend, entwurzelt und noch lange nicht fertig.“ (Cosima Lutz, „Die Welt“)

Die LebendenFoto: SWR / Real Film
Ende der Verdrängung? Sita (Anna Fischer) hat ihren Vater (August Zirner) dazu überredet, mit ihr nach Auschwitz zu fahren.

„Die Lebenden“ der Österreicherin Barbara Albert („Nordrand“) ist ein starkes Plädoyer (freilich ein grenzwertiger Begriff für ein quasi Wiener Mitglied der „Berliner Schule“) für die Einheit von Vergangenheit und Gegenwart, für die Allgegenwart von Geschichte. Der Film, der 2013 im Kino lief, überzeugt aber auch stilistisch. Musikalisch wird er dominiert von dem Gegensatz zwischen der alten wehmütigen Chorälen des Vaters und den pulsierenden urbanen Grooves, die zum Soundtrack von Sitas Lebens gehören. Diese modernen Sounds charakterisieren ihren Lebensstil. Die bewegte Kamera und die Montage tragen das Ihre dazu bei. Durch sie wird die innere Suche der Heldin mit den sinnlichen, äußerlich wahrnehmbaren Bewegungen synchronisiert. Sita tanzt, Sita rennt, Sita rast mit ihrem Motorroller. Auf der Reise ins Innere wechseln dann auch die äußeren Bewegungen: alles wird langsamer, totaler, nachdenklicher – aber auch trüber: der Winterhimmel legt sich über Warschau. Doch der Rhythmus des Films folgt dem Lebensrhythmus seiner Heldin. Und so muss auch der Zuschauer nicht in der grauen Tragikspirale hängenbleiben. Das Leben geht weiter.

Der Film ist perfekt besetzt: Da ist Anna Fischer mit ihrer Option zu Girlie-Power statt ewiger Melancholie, August Zirner als sich in Ausflüchte Flüchtender, der durchaus auch etwas von der Sensibilität seiner Mutter geerbt hat, was spätestens in dem Moment deutlich wird, in dem er bei der Fahrt nach Auschwitz in bitterliches Weinen ausbricht. Und da ist Hanns Schuschnig mit seinem charmanten Ösi-Timbre als liebenswerter Großvater, der wirr, aber poetisch ins Philosophieren gerät und der sich mit Glanz in den Augen an seine Hochzeitreise nach Warschau 1943 als die schönste Zeit seines Lebens erinnert. Danach kam Auschwitz. Für ihn kein Problem. „Das war nicht ich. Das war ein anderer, ein Gespenst war dort.“

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Kinofilm

SWR

Mit Anna Fischer, Hanns Schuschnig, August Zirner, Itay Tiran, Daniela Sea, Winfried Glatzeder

Kamera: Bogumil Godfrejow

Szenenbild: Enid Löser

Schnitt: Monika Willi

Musik: Lorenz Dangel

Soundtrack: Gustav („Ifall“), Fabrice Mauss („Minuit Passé“), Caribou („Odessa“), Darkstar („Deadness“), EMA („Marked“), Soap & Skin („Boat Turns Toward The Port“)

Produktionsfirma: coop 99 Filmproduktion, Alex Stern, Komplizen Film

Drehbuch: Barbara Albert

Regie: Barbara Albert

EA: 20.08.2015 22:10 Uhr | Arte

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