Kurz bevor Angela Merkel (Imogen Kogge) in Brüssel aus der Limousine und vor die Mikrofone der internationalen Medien tritt, erhält sie eine SMS: „Ungarn baut einen Grenzzaun.“ „Scheiße“, sagt die Bundeskanzlerin in erfrischender, fürs Publikum allerdings ungewohnter Spontaneität. Ob sie wirklich so reagiert hat an diesem 12. Juli 2015? Schon möglich. Und wer will einen Film sehen, in dem Angela Merkel so redet wie (fast) immer im Fernsehen? Auch sonst gibt es in „Die Getriebenen“ wohl einige Szenen, die über das belegbare Geschehen hinaus reichen. Vor allem von der privaten Merkel und ihrem Zusammenleben mit Joachim Sauer, der von Uwe Preuss als geduldiger Gefährte gespielt wird. Sauer steht auch mal mit Schürze am Herd, wenn die arbeitende Ehefrau nach Hause kommt – ein schön beiläufig erzählter Tausch traditioneller Rollen. Wie überhaupt der Blick in das sonst gut abgeschottete Eheleben von Merkel/Sauer respektvoll und zurückhaltend inszeniert ist. Die Figur des Kanzleringatten ist aber auch kein überflüssiges, stummes Beiwerk: In einem Schlüsseldialog gegen Ende gibt er Merkel kräftig Contra. Dann kommt endlich mal Kritik zur Sprache, die nicht von konservativer Seite stammt und in der etwa auf den seit Jahren währenden Krieg in Syrien und auf europäische Versäumnisse verwiesen wird.
Merkel zögert, ehe ihre Flüchtlingspolitik die Republik polarisiert
Dass Merkel die Flüchtlingspolitik lästig und nachrangig war, dass sie lange Zeit zögerte und zauderte, bevor sie im Herbst 2015 für die einen zur menschenfreundlichen Lichtgestalt und für die anderen zur vermeintlichen Volksverräterin wurde, das erzählt freilich auch der Film von Drehbuch-Autor Florian Oeller und Regisseur Stephan Wagner. „Die Getriebenen“ beruht auf dem gleichnamigen Sachbuch von „Welt“-Korrespondent Robin Alexander, der die Ereignisse rund um die Aufnahme Tausender Geflüchteter, die Anfang September 2015 vom Budapester Bahnhof Keleti Richtung Deutschland marschiert waren, minutiös recherchierte. Während sich das ZDF-Dokudrama „Stunden der Entscheidung“ (2019) im Wesentlichen auf die Abläufe am 4. September und der Nacht darauf konzentrierte, fassen Oeller/Wagner einen viel weiteren zeitlichen Rahmen, beginnend beim Beschluss der Ungarn, die Grenze zu Serbien mit einem Zaun zu sichern und keine Flüchtlinge mehr ins Land zu lassen.
Politik im Modus gleichzeitig stattfindender Krisen
In Berlin hatte Angela Merkel zuvor noch ihrer Büro-Leiterin Beate Baumann (Gisela Aderhold) aufgetragen, das Gespräch zur Flüchtlingspolitik mit Innenminister Thomas de Maizière (Wolfgang Pregler) zu verschieben. Vorrang haben im Juli 2015 die Versuche, den Euro zu retten. Der erboste Finanzminister Wolfgang Schäuble (Rüdiger Vogler) fordert am Telefon, Merkel möge den Grexit, den Rauswurf des hoch verschuldeten Griechenlands aus der Euro-Zone, einleiten. In Brüssel verhandeln die Staatschefs am Abend ein weiteres Mal mit Griechenlands Ministerpräsident Alexis Zipras (Vasilis Spiliopoulos). In Wagners Inszenierung wirkt es so, als habe Merkel Zipras ganz allein bei einem Gespräch auf dem Flur zum Einlenken gebracht. Das ist sicher etwas wohlwollend und verkürzt erzählt, aber klar wird doch, dass Politik eine anspruchsvolle Aufgabe ist, in der verschiedene Krisen gleichzeitig bewältigt werden müssen. In einer anderen Szene geht Baumann die Termine mit der Kanzlerin durch. Es geht um das Atom-Abkommen mit dem Iran, eine UN-Konferenz, Telefonate zu Griechenland, der NSA-Spionage und der Ukraine-Krise. Und um die Frage, ob Merkel zum Festakt aus Anlass des 100. Geburtstags von Franz-Josef Strauß nach Bayern reisen wolle – auch ein heikles Thema. Das Gespräch findet auf dem Weg zum Aufzug statt.
Viel Personal und eine Menge politischer Winkelzüge
Die Bundeskanzlerin ist beinahe ständig in Bewegung und dank Smartphone und Tablet in permanenter Alarmbereitschaft. Wenn sie mal im Kreise ihrer engsten Berater zum Stillstand kommt, reden die auf sie ein und drängen zum Kurswechsel. Parallel sieht man, wie Ungarns Staatspräsident Viktor Orban (Radu Banzaru) und sein Berater die Zustände am Budapester Bahnhof Keleti bewusst eskalieren lassen. Wie der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel (Timo Dierkes) auf Fehler und Zeichen der Schwäche Merkels hofft. Wie Bayerns Finanzminister Markus Söder (Matthias Kupfer) den gesundheitlich angeschlagenen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (Josef Bierbichler) attackiert. Wie die steigenden Flüchtlingszahlen den erst verschnupften, dann erkrankten Bundesinnenminister Thomas de Maizière unter Druck setzen. Wie sich Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maassen (Michael Benthin), BKA-Chef Holger Münch (Peter Kremer) und Bundespolizei-Boss Dieter Romann (Jörg Westphal) verbünden, um eine schärfere Asylpolitik durchzusetzen. Viel Personal, eine Menge politischer Winkelzüge und mittendrin, im Auge des Sturms, die Kanzlerin, die der Flüchtlingspolitik nur widerwillig Beachtung schenkt, keine Lust hat, öffentlichkeitswirksam ein Flüchtlingsheim zu besuchen und schon gar nicht, auf Orban zuzugehen.
Imogen Kogge ignoriert souverän jedes Merkel-Klischee
Mit permanenten Schauplatzwechseln und der Einbindung von Nachrichtenbildern wird die reale Dramatik des Sommers 2015 zu einer packenden Polit-Fiktion. Getragen wird der Film von der großartigen Imogen Kogge, die in ihrer Interpretation von Angela Merkel souverän jedes „Mutti“- oder „Mädchen“-Klischee ignoriert. Dem Bild von der ausschließlich kühl analysierenden Polit-Physikerin widerspricht sie mit dezent gezeigten Emotionen. Zwar ist eine Politikerin wie Merkel darin geübt, sich jederzeit unter Kontrolle zu haben. Aber abends auf dem Sofa rührt es die Kanzlerin doch, noch einmal im TV zu sehen, wie sie von Geflüchteten umringt, umarmt und um Selfies gebeten wurde. Diese Szene könnte schnell peinlich werden, aber nicht mit Imogen Kogge, die Merkels Stimmung nur andeutet. Klasse auch Rüdiger Vogler als mürrischer Wolfgang Schäuble sowie Josef Bierbichler, der Merkels Gegenspieler Horst Seehofer wie einen alten, verwundeten Graurücken spielt, der sich noch einmal gegen den jungen, ehrgeizigen Herausforderer aufzubäumen versucht. Manch prominente Figur wirkt allerdings auch etwas holzschnittartig. Söder und Gabriel zum Beispiel sind pure Politiker-Klischees, nur an der Macht interessiert. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (Walter Sittler) ist angenehm uneitel, aber auch etwas blass.
Kein Parlament, keine Opposition, kein anderes Bundesland außer Bayern
In dem sorgfältig zusammengestellten Cast (Casting: Marc Schötteldreier) fällt die Orientierung leicht, trotz seines beachtlichen Umfangs. Aber manche Physiognomie ist derart einzigartig, dass ihre Kopie einerseits unverkennbar ist, andererseits schnell zur Karikatur wird. Die schwerste Last bewältigt in diesem Sinne Tristan Seith, den die Maske (Marika Knappe, Gloria Göschel) eindrucksvoll in den bulligen Peter Altmaier verwandelte. Der Kanzleramtschef ist Merkels erster Mann in der Krise („Altmaier muss sich kümmern“) und eine Schlüsselfigur – während der Corona-Pandemie ist dies Altmaiers Nachfolger Helge Braun. Zum inneren Machtzirkel der Merkel-Ära gehören außerdem Beate Baumann, die den Laden nicht nur organisatorisch zusammenhält, Eva Christiansen (Silvina Buchbauer), die als Beraterin vor allem die Außenwirkung im Blick hat, sowie der ehemalige ZDF-Moderator Steffen Seibert (Urs Remond), der Merkels Sprachrohr ist. Als Lehrstück taugt der Film jedoch nur bedingt, dafür gibt es dann doch zu viele Leerstellen: Kein Parlament, keine Opposition, kein Bundesland (außer Bayern) grätscht dazwischen, als gäbe es nur die Große Koalition und den Machtkampf innerhalb der Union.
Die Politik nutzt die Macht der Bilder – und fürchtet sie
Umso wichtiger sind die Ausschnitte aus TV-Nachrichten, Dokumentationen und Reportagen, die auch mal eine andere Perspektive vermitteln als die der Berliner, Brüsseler und Münchner Machtzentralen: der Krieg in Syrien, die Not der Flüchtenden und ihr massenhaftes Sterben auf dem Weg nach Europa. Es ist ein Sommer voller aufwühlender Ereignisse: die Ausschreitungen im sächsischen Heidenau, der schreckliche Fund eines Lastwagens voller Leichen in Österreich, das Foto vom ertrunkenen zweijährigen Jungen aus Syrien am türkischen Mittelmeerstrand, die menschenunwürdigen Zustände im Bahnhof Keleti und in anderen Flüchtlingslagern. Die Macht der Bilder nutzen und fürchten Politiker gleichermaßen. Orban will Europa unter Druck setzen – Merkel wiederum lässt den Ereignissen am 4. September auch deshalb ihren Lauf, weil sie Bilder von Polizei-Gewalt gegen Flüchtende um jeden Preis vermeiden will. Wie sich die Situation zuspitzt, ist differenziert und spannend erzählt. Fließend und elegant sind manche Übergänge zwischen fiktionalem Spiel und dokumentarischem Original. Wenn Schauspieler jedoch plötzlich neben realen Figuren auftauchen, weil sie in Nachrichtenfilme hineinkopiert werden, ist das eine eher bedenklich manipulative Konstruktion. Wobei sich ohnehin jede Art von Inszenierung – die der realen Politik ebenso wie die ihrer fiktionalen Annäherung – eine eigene Wirklichkeit baut.