Die Bürgermeisterin

Anna Schudt, Magnus Vattrodt, Christiane Balthasar. Unter deutschen Dächern

Foto: ZDF / Martin Valentin Menke
Foto Thomas Gehringer

Emmy-Preisträgerin Anna Schudt in der Titelrolle eines exzellenten, gesellschaftspolitischen Dramas: Der Film „Die Bürgermeisterin“ (ZDF / Network Movie) handelt von einer engagierten, ehrenamtlich tätigen Lokalpolitikerin, die zur Zielscheibe des Hasses wird, weil in ihrem Ort ein Flüchtlingsheim eingerichtet werden soll. Gesellschaftlicher Sprengstoff also, der sich „im Kleinen“, im Nahbereich der lokalen Ebene, offenbart. Autor Magnus Vattrodt und Regisseurin Christiane Balthasar erzählen eindringlich, wie die Bedrohung das Familienleben belastet, wie Misstrauen und Furcht das Klima im Alltag und in der politischen Arbeit vergiften. Kein plumpes Lehrstück, kein künstlich aufgeblasenes Drama, sondern ein ebenso kluger, realistischer wie hochemotionaler, physisch bedrückend inszenierter Film zur rechten Zeit. So sieht ambitionierte, gesellschaftlich relevante Fiktion aus.

Claudia Voss (Anna Schudt) ist die „ewige Klassensprecherin“, wie eine Freundin sagt. Sich kümmern, das ist für sie selbstverständlicher Lebensinhalt. Sei es um den Kunstrasenplatz für den Sportverein, um das Parkplatz-Problem eines Bauunternehmers, dem sie den Bücherbus nicht opfern will, oder um das Unkraut auf dem Friedhof. Sie investiert viel Arbeit in das Finanzierungskonzept für ein Ärztehaus. Gleichzeitig ist die Mutter der 16-jährigen Leonie (Jule Hermann) auch noch in der Schreinerei ihres Mannes Peter (Felix Klare) beschäftigt. Als empathische Ortsbürgermeisterin im Stadtteil Neustadt-Linden kann sie in der eigenen Nachbarschaft etwas bewirken. Allerdings wird sie im Zweifel auch für alles verantwortlich gemacht, für den umgetretenen Mülleimer an der öffentlichen Tischtennisplatte ebenso wie für das von der Kreisverwaltung geplante Flüchtlingsheim.

Die BürgermeisterinFoto: ZDF / Martin Valentin Menke
Unternehmer Veith Landauer (Alexander Beyer) ruft zum Widerstand gegen das geplante Flüchtlingsheim auf. Claudia Voss (Anna Schudt) versucht zu vermitteln.

Als sie per Zufall von dem Plan erfährt, weil sie weder von der Stadt noch vom Landkreis informiert wurde, ist sie keineswegs begeistert: „Warum ausgerechnet bei uns?“, will Claudia Voss von Oberbürgermeister Baumann (Christian Hockenbrink) wissen. Sie hat Bedenken wegen der mangelnden Infrastruktur, kann aber ohnehin nichts ändern. Ihr Vorgänger Gerhard Zöllner (Uwe Preuss) rät ihr, es dem geschmeidigen OB gleichzutun: „Schieb‘ alles auf den Landkreis und zieh‘ den Kopf ein.“ Was geschehen kann, wenn man als Kommunalpolitikerin eben nicht den Kopf einzieht, erzählt der ZDF-Fernsehfilm „Die Bürgermeisterin“ auf präzise und eindringliche Weise. Voss wirbt für „ein gutes Miteinander“, während der Unternehmer Veith Landauer (Alexander Beyer) zum Widerstand gegen die geplante Unterbringung von 40 bis 50 Menschen in einem leerstehenden, sanierungsbedürftigen Wohnhaus aufruft. Die beiden liefern sich gepfefferte Dialoge, die treffsicher die Polarisierung der Gesellschaft spiegeln. Der redegewandte Landauer macht die Ortsbürgermeisterin auf perfide Weise zur persönlich Verantwortlichen und damit zur Zielscheibe des Hasses.

Drehbuchautor Magnus Vattrodt, gerade mit dem Deutschen Fernsehpreis für „Die Wannseekonferenz“ ausgezeichnet, greift ein reales, alarmierendes Phänomen auf. Insbesondere im Zuge der steigenden Flüchtlingszahlen im Jahr 2015 wurden zahlreiche Politiker*innen bedroht und angegriffen. Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker überlebte im Oktober 2015 einen Messerangriff, der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) wurde am 2. Juni 2019 von einem Rechtsextremen erschossen. Vattrodts Drehbuch weist vor allem Ähnlichkeiten mit einem Fall in Tröglitz / Sachsen-Anhalt auf. Dort organisierten Rechtsextreme Demonstrationen vor dem Privathaus des parteilosen Bürgermeisters Markus Nierth, der sich für eine Unterbringung von Geflüchteten eingesetzt hatte. Eine Infotafel im Abspann zitiert eine Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2021. Demnach gaben 57 Prozent der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Deutschland an, „dass sie oder Personen aus ihrem privaten Umfeld aufgrund ihrer Tätigkeit schon einmal beleidigt, bedroht oder tätlich angegriffen wurden“. Das ZDF schildert die Lage außerdem in der Dokumentation „Engagiert und attackiert – Wenn Politiker zur Zielscheibe werden“.

Die BürgermeisterinFoto: ZDF / Martin Valentin Menke
Der Druck von außen wächst, und das Familienleben von Claudia Voss (Anna Schudt) bleibt nicht unbehelligt von der politischen Hetzjagd. Ihr Mann Peter (Felix Klare) hält zwar zu ihr, verhält sich aber zunehmend nervös und gereizt. Der unversöhnliche Hass führt auch zu einem traumatischen Erlebnis für Tochter Leonie (Jule Hermann).

Gesellschaftlicher Sprengstoff also, der sich „im Kleinen“, im Nahbereich der lokalen Ebene, offenbart. Und so hat Vattrodt auch die Handlung in einem ziemlich durchschnittlichen Ort angesiedelt, der überall sein könnte und nicht auf bestimmte Regionen Deutschlands verweist. Auch Claudia Voss ist weltanschaulich nicht eindeutig zu verorten. Sie engagiert sich in der Kirchengemeinde, aber Parteipolitik spielt hier keine Rolle. Ihr Vorgänger, der einen Herzinfarkt erlitten und sie deshalb angeworben hatte, ist ihr engster politischer Vertrauter. Welcher Partei beide angehören, bleibt offen. Ohnehin ist Voss kein abgebrühter Politprofi, sondern eine fest in der Heimat verwurzelte Figur aus der Mittelschicht mit Kleinfamilie und eigenem Handwerksbetrieb. Anna Schudt trägt den Film mit ihrer differenzierten und durchweg glaubwürdigen Darstellung dieser mutigen, warmherzigen, aber auch ehrgeizigen Frau, die nach Ansicht ihres Mannes ein bisschen viel Zeit in die Kommunalpolitik investiert.

Vattrodt und Regisseurin Balthasar drehen gekonnt an der Spannungsschraube, bauen ein sich stetig steigerndes Bedrohungspotenzial auf. Eine Konfrontation mit Landauer auf dem Marktplatz sorgt für noch mehr Hetze und Beschimpfungen in den sozialen Netzwerken. Junge Männer, die die Bürgermeisterin zuvor angepöbelt hatten, parken stundenlang vor dem Haus der Familie. Ein Beamter des Landeskriminalamts klingelt plötzlich an der Tür und warnt vor einer „diffusen Bedrohung“. Voss‘ Zuversicht („Das ist immer noch unser kleines Linden, das fangen wir wieder ein“) beginnt zu bröckeln, zumal die eigene Familie immer mehr in Mitleidenschaft gezogen wird. Claudias Mann hält zu seiner Frau, verhält sich aber zunehmend nervös und gereizt. Das bekommt auch sein Azubi Hannes Bachmann (Carl Phillip Benzschawel) zu spüren, der einst selbst zur rechten Szene gehörte – und vielleicht immer noch gehört. Schließlich kommt es zu einem Brandanschlag auf das noch leerstehende Gebäude, in das die Geflüchteten einziehen sollen. Der unversöhnliche Hass führt auch zu einem traumatischen Erlebnis für Leonie. Sie wird das Opfer eines ekelhaften Anschlags per Post. Und die idyllische Stimmung bei einer gemeinsamen Kanufahrt mit der Mutter an Leonies 17. Geburtstag bleibt ebenfalls nicht von Dauer. Es ist, als verwandelten sich Nachbarn in Zombies. Und die verbliebenen Weggefährt*innen werden immer kleinlauter.

Die BürgermeisterinFoto: ZDF / Martin Valentin Menke
Die ehrenamtlich tätige Lokalpolitikerin Voss, eine empathische, engagierte Frau, die sich kümmert, wird zunehmend zur Zielscheibe. Emmy-Preisträgerin Anna Schudt trägt den Film mit ihrer differenzierten und durchweg glaubwürdigen Darstellung.

Die bedrückend realistische Inszenierung von Christiane Balthasar („Bring mich nach Hause“, „Kommissarin Heller“) nimmt das Publikum von Beginn an mit und lässt es die Gefahr, die von der gezielten Hetze ausgeht, geradezu körperlich spüren. So wird beispielsweise schon eine simple Ortsbeiratssitzung – auch dank der Bildgestaltung von Hannes Hubach und der Montage von Andreas Althoff – zu einem spannenden und konzentrierten Kammerspiel. Die Darsteller tragen ihren Teil dazu bei: Alexander Beyer spielt keinen Schreihals und keinen Trottel, dem man nicht zutraut, weiter als bis zum Horizont der eigenen Parolen zu denken. Die Ruhe und die Kälte, mit der er seine Figur ausstattet, treffen ins Mark. Angereiste Neonazis treten irgendwann auch in Erscheinung, aber wahrlich beängstigend ist es zu erleben, wie schnell sich innerhalb einer Gemeinde der Sinn für das „gute Miteinander“ zerstören lässt. Marleen Lohse hat einen beklemmenden Auftritt als Administratorin des Anti-Flüchtlings-Forums, die sich mit der Bürgermeisterin trifft und pure Gleichgültigkeit und Feindseligkeit ausstrahlt. Aber es ist eben auch das Schweigen der viel beschäftigten Bäckersfrau (Katharina Behrens) und der schwindende Mut in Voss‘ Unterstützerkreis, der dazu beiträgt, dass sich Claudia Voss immer einsamer fühlt. Großartig dann das leise und umso erschütterndere Finale.

„Die Bürgermeisterin“ ist kein Themenfilm, der die Flüchtlingsdebatte in all seinen Facetten durcharbeiten will. Vielmehr ist es eine besondere Stärke, dass die Handlung konsequent vor Ort bleibt, von der „kleinen“ Gemeinschaft aus aber das große Ganze in den Blick zu nehmen versteht. Bereits das Rathaus, in dem Voss und Zöllner den Oberbürgermeister aufsuchen, wirkt wie ein Raumschiff aus einer anderen Welt. Nicht ganz zu Unrecht könnte man dem Film freilich seine mangelnde Diversität vorwerfen. Dr. Erdem (Mohamed Achour) mischt als Vertreter der muslimischen Gemeinschaft im Ortsbeirat mit, aber dass in Neustadt-Linden Menschen verschiedener Herkunft und Hautfarben leben, ist ansonsten nicht sichtbar. Alles ist weiß und ziemlich wohlgeordnet und wirkt deshalb auch ein bisschen wie eine Laboranordnung. Nachvollziehbar erscheint allerdings, dass diejenigen, an denen sich all die Konflikte entzünden, gar nicht als Protagonisten in Erscheinung treten: Geflüchtete. Denn Vorurteile und Angst sind bekanntlich dort stark ausgeprägt, wo die Menschen gar nicht oder nur wenig mit Fremden in Berührung kommen. (Text-Stand: 9.10.2022)

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Fernsehfilm

ZDF

Mit Anna Schudt, Felix Klare, Jule Hermann, Uwe Preuss, Alexander Beyer, Carl Philipp Benzschawel, Katharina Behrens, Marleen Lohse, Mohamed Achour, Christian Hockenbrink

Kamera: Hannes Hubach

Szenenbild: Ulrich Hintzen

Kostüm: Anne Jendritzko

Schnitt: Andreas Althoff

Musik: Johannes Kobilke

Redaktion: Caroline von Senden, Solveig Cornelisen

Produktionsfirma: Network Movie

Produktion: Silke Pützer, Wolfgang Cimera

Drehbuch: Magnus Vattrodt

Regie: Christiane Balthasar

Quote: 4,20 Mio. Zuschauer (15,5% MA)

EA: 24.10.2022 20:15 Uhr | ZDF

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