Der Mann ist ein kaltblütiger Killer. Nach getaner Tat wäre sein unfreiwilliger Ausflug zur Waldhütte zumindest aus seiner Sicht bloß noch eine tödliche Anekdote, aber er ist beobachtet worden: Zwei Jungs haben gesehen, wie er drei Männer erschossen hat. Bevor er einen der beiden Zeugen beseitigen kann, wird er vom anderen niedergeschlagen, und nun beginnt eine Geschichte, die weitgehend ohne die üblichen Spannungsverstärker auskommt und trotzdem fesselt. Die Handlung schlägt dabei einige unerwartete Haken und verblüfft zudem durch einen völlig unerwarteten Knüller: Folge zwei endet mit einem doppelten Knalleffekt, einmal buchstäblich, als eine Rohrbombe explodiert, einmal im übertragenen Sinn, und in beiden Fällen spielt der Mörder eine entscheidende Rolle.
Foto: Degeto / Bantry Bay / Hendrik Heiden
„Die Augenzeugen“ basiert auf einer norwegischen Serie aus dem Jahr 2014, die international unter dem Titel „Eyewitness“ gehandelt wurde (2015 lief sie auf Arte). Die deutsche Adaption (Buch: Jens-Frederik Otto, Anil Kizilbuga, Michael Vershinin) ist zwei Folgen kürzer, aber aufgrund der personellen Konstellation beeindruckend komplex. Gerade die jugendlichen Mitwirkenden sind ausnahmslos sehr präsent und von Anna-Katharina Maier ausgezeichnet geführt. Dank der guten Geschichte kann die Regisseurin, die von „Der Beischläfer“ (2020) und „Damaged Goods“ (2022, beide Amazon Prime) bis zu „Tage, die es nicht gab“ (2023, ARD) in den letzten Jahren einige beachtliche Serien gedreht hat, es sich leisten, dem Geschehen einfach zuzuschauen: Die Bildgestaltung (Holger Jungnickel) hat hohes Niveau, kommt jedoch gänzlich ohne die Raffinesse der Drehbücher aus. Für Spannung sorgen neben den zum Teil fiesen Cliffhangern in erster Linie die gute elektronische Musik (Jaro Messerschmidt, Nik Reich) sowie natürlich die Frage, ob und wie die verschiedenen Beteiligten heil aus der Sache rauskommen. Das gilt keineswegs nur für die beiden Jungs (Philip Günsch, Marven Gabriel Suarez-Brinkert), sondern überraschenderweise auch für den Mörder, denn der von Lucas Gregorowicz als cooler Killer verkörperte Roman Berg entpuppt sich als sympathischer Familienvater.
Foto: Degeto / Bantry Bay / Marco Nagel
Mit dieser Personalie hat das Drehbuch ohnehin einen echten Coup zu bieten, aber auch die weiteren erwachsenen Figuren haben jeweils eine Besonderheit, die sie verletzlich und daher angreifbar macht. Das gilt vor allem für die zuständige Ermittlerin. Die Geschichte spielt im oberbayerischen Miesbach, die Gegend ist viel zu schön für skrupellose Gewalttaten. Helen Severing (Nicolette Krebitz) hat den Drogentod ihrer Schwester nicht verhindern können und sich vom Münchener Dezernat für Organisierte Kriminalität in ihre alte Heimat versetzen lassen, um sich um ihren sechzehnjährigen Neffen Jan zu kümmern, und jetzt schließen sich gleich mehrere Kreise: Jan und Lukas sind die beiden Jungs, die sich in der Hütte zum ersten Mal näher gekommen sind, Bergs Tochter Hannah (Paulina Hobratschk) ist ihre Mitschülerin. Entsprechend groß ist das Risiko, dass sich die Augenzeugen und der vermeintliche Profikiller auf dem Schulgelände über den Weg laufen; zumindest Jan hat er gesehen. Die Hütte wiederum dient als Drogenversteck für die Münchener Rockerbande „Balkan Barbarians“, mit der Helen während ihrer Zeit beim OK regelmäßig zu tun hatte, ebenso wie mit dem Mafia-Boss Vincenzo Fontana (Michele Cuciuffo), dessen Tochter die ganze Sache überhaupt erst ins Rollen gebracht hat: Francesca (Julia Anna Grob), kaum älter als Hannah, hat sich unsterblich in Berg verliebt. Eigentlich hatten es die Rocker auf sie abgesehen; stattdessen ist der Geliebte im Kofferraum gelandet.
Foto: Degeto / Bantry Bay / Hendrik Heiden
Wie nun eins zum anderen führt und die Handlung deshalb immer weitere Kreise zieht, ist ein dramaturgisches Vergnügen. Erschwerend kommt aus Helens Sicht hinzu, dass ihre Nachfolgerin (Lana Cooper) beim OK überhaupt keine Lust hat, sich von der Vorgängerin in die Arbeit pfuschen zu lassen. Darüber hinaus ist noch Zeit für kleine Nebenebenen, darunter eine lange zurückliegende familiäre Tragödie bei den Severings sowie ein aktuelles Drama rund um den von Ercan Durmaz anrührend verkörperten schwer erkrankten Dezernatsleiter, der Helen stets ein väterlicher Freund war. Das Verhältnis von Tante und Neffe spielt natürlich ebenfalls eine wichtige Rolle. Das besondere Merkmal der Geschichte ist jedoch die Ambivalenz der Gegenspieler: Neben dem Mörder haben auch der als Vater gescheiterte melancholische Mafia-Boss sowie sogar der Rocker-Chef (Shenja Lacher) durchaus sympathische Momente. Am Ende bleiben zwar einige Fragen offen, aber das stört nicht weiter.