Waren die Liebe und das Glück eine einzige Lüge?
Ein Paar radelt durch die Hamburger Nacht: Uli und Nora – die beiden sind sich ganz nah, sehen glücklich aus. „Mein Herz gleicht ganz dem Meer und Sturm und Ebbe und Flut und manche schöne Perle in seiner Tiefe ruht“, reimt er für sie. Sie ist gerührt. Wenig später rast ein Auto auf die beiden zu. Doch Uli macht keine Anstalten, zu bremsen, reagiert nicht auf die beschwörenden Worte der Freundin, wirkt wie abwesend. Es ist der erste Schicksalsschlag. Der zweite folgt am nächsten Morgen. Während einer seiner Hafenrundfahrten erleidet Uli einen Hirnschlag. Er überlebt, aber er hat seine Sprache verloren. Nora scheint überfordert mit der Situation. Als sie in Ulis Wohnung ein paar Sachen für ihn zusammenpacken will, klingelt sein Zweit-Handy. Am anderen Ende eine unbekannte Frauenstimme, die merkwürdig vertraut klingt. Für Nora ist es der nächste Schicksalsschlag. Sie wittert ein Geheimnis in Ulis Leben. Bekommt sie nun die Erklärung dafür geliefert, dass die beiden noch immer nicht zusammenwohnen und dass dieser Mann zum Verlieben gelegentlich so seltsam unnahbar ist. Plötzlich schafft sie es nicht mehr, ihren Geliebten im Krankenhaus zu besuchen, an seinem Bett zu wachen, für ihn da zu sein. Sie will vielmehr wissen, was es mit dem Jahr ihrer Beziehung auf sich hatte. Sie sucht die Wahrheit. War es Liebe oder eine einzige Lüge?
Foto: ZDF / Marion von der Mehden
Der Verlust der Sprache wird zur großen Chance
Der Fernsehfilm „Der Verlust“ nach dem gleichnamigen Roman von Siegfried Lenz erzählt von dem, was bisher unausgesprochen geblieben ist zwischen den beiden Hauptfiguren. Der Mann hat sich offenbar über vieles in seinem bisherigen Leben ausgeschwiegen – da ist nicht nur diese Frau am Telefon, da ist auch der Bruder, mit dem der zum Fremdenführer heruntergekommene „Mann der Worte“ seit 16 Jahren nicht mehr gesprochen hat, und da ist dessen Ehefrau, die offensichtlich von diesem Mann auch einmal fasziniert gewesen ist. „Dieser Verlust ist gleichzeitig Ulis größte Chance“, befindet Autor-Regisseur Thomas Berger, der auch für die letzte Lenz-Verfilmung fürs ZDF, „Die Flut ist pünktlich“, verantwortlich zeichnete. „Denn jetzt müssen die Menschen um ihn herum miteinander reden – und sie finden heraus, wer Uli wirklich ist.“ Berger erkennt in der Geschichte ein zeitloses Thema: „Könnte ich Dich noch lieben, wenn ich wirklich wüsste, wer Du bist?“ Doch konkret stellt sich für die weibliche Hauptperson erst einmal die Frage, ob sie und ihr „Partner“ überhaupt ein gemeinsames Leben gehabt haben? Erst daraus kann sie für sich ableiten, ob das zwischen ihnen – was auch immer es gewesen ist – eine Zukunft haben kann oder nicht.
Gratifikationsdramaturgie und Reduktion aufs Wesentliche
Der Unfall zu Beginn des Films deutet es an: Einer bleibt immer auf der Strecke. Ein bisschen gehört das freilich auch zu jeder Dreiecksgeschichte. Aber die Spannungskurven verlaufen in „Der Verlust“ trotz eines Kommissars, der jenen Verkehrsunfall mit Todesfolge in der Eingangsnacht mit einem süffisanten Lächeln aufklären möchte, zunehmend mehr nach literarisch-philosophischem als dramatisch-psychologischem Muster. Anfangs sind es die in die angenehm reduzierte Handlung eingebauten Hinweise, aus denen sich der Zuschauer – ähnlich wie die weibliche Hauptfigur – den Konflikt zusammenreimen kann. Wo zwei Handys im Spiel sind, liegt der Verdacht nahe, dass zwei Frauen im Spiel sein könnten. Und wenn sich zwei Brüder verkrachen, von denen der eine als geheimnisvoller Lebenskünstler eingeführt wird, während der andere vom grundsympathischen deutschen Herrn-Mustermann-Darsteller, Hans-Jochen Wagner, verkörpert wird, macht man sich darauf als Zuschauer schnell einen Reim, vor allem dann, wenn die Ehefrau des Bruders von Meret Becker gespielt wird und ihre Hilde ein großes Interesse an dem Mann zeigt, der seine Sprache verloren hat („Wenn Uli es will, dann bin ich für ihn da“). Ein bisschen also ist es schon diese effektive Gratifikations-Dramaturgie aus Annahme und Bestätigung, die den beziehungsfilmgeneigten Zuschauer sicher durch die handlungsarme erste halbe Stunde geleitet. Reizvoll sind aber auch die reduzierte Erzählung, der sich immer klarer abzeichnende innere Konflikt und die Bilder, die ihn zum Ausdruck bringen. Gerade noch diese Nähe auf dem Fahrrad, 30 Filmminuten später, der Blick auf ein Türschild, „Petersen Martens“, und die Nähe ist plötzlich ganz weit weg.
Foto: ZDF / Marion von der Mehden
Heino Ferch über die Verlust-Erfahrungen in „Der Verlust“
„Verluste werden auf vielen Ebenen des Films deutlich: Verlust der Sprache, Verlust des Eingreifen-Könnens, Verlust der Beziehungen, Verlust des Bruders, also der Familie, Verlust einer früheren Liebe, der Frau, die Meret Becker spielt. Der Verlust der Stimme ist im Film nur ein Vehikel. Es geht um den Verlust der Verantwortung für sein eigenes Handeln, den Verlust von Souveränität und um den Verlust dieses alten Lebens im Arrangement.
Kluges Austarieren zwischen Nähe und Distanz
Emotional und ästhetisch zugleich ist die Art, wie Regisseur Berger und Hauptdarstellerin Ina Weisse („Ich will dich“) die Konfrontation mit dieser Lebenslüge suchen: ein sehr kluges Austarieren zwischen Nähe und Distanz. Das bietet dem Zuschauer zunehmend mehr Möglichkeiten, sich eigene Gedanken zu den Beziehungen der Figuren zu machen. Insbesondere im Schlussdrittel, in dem alle Geheimnisse gelüftet werden, in dem deutlich wird, welche Schicksalsschläge über Nora, Uli, Karin, Frank und Hilde einst hereinbrachen und wer wann wen „gerettet“ hat, bekommt diese Reise in die Innenwelt einer enttäuschten Liebe mehr und mehr Konturen und Tiefe. Wie im Leben erfolgt die Aneignung der Vergangenheit durch Sprache. Das muss man mögen. Wenn man es tut, dann erzählt „Der Verlust“ nicht von einer Dreiecksgeschichte, sondern von Schicksalsgemeinschaften, denen mit Alltagspsychologie nur unzureichend beizukommen ist. Dringt man in die Schicksale ein, wird man den Plot nicht darauf reduzieren, dass hier ein übler Egoist am Werke war, sondern wird sich den universalen Fragen der Liebe, der Beziehungsarithmetik, stellen. „Führt man eine Beziehung, damit es einem selbst gut geht und man selbst glücklich ist? Oder ist man bereit, den Partner glücklich zu machen, statt ihn für das eigene Glück verantwortlich zu machen?“, das ist beispielsweise für Thomas Berger die Frage der Fragen. Sieht es in der ersten Stunde nicht danach aus, als ob der Film das hohe Reflexionsniveau des Romans auch nur annäherungsweise erreicht, so ist das Sinnierpotenzial von „Der Verlust“ für einen Fernsehfilm der 10er Jahre am Ende durchaus beachtlich. (Text.-Stand: 10.9.2015)