Im Wasser schwimmt eine Leiche. „Das bin ich. Nein, das war ich“, hört man aus dem Off. Der Mann, der aus dem Jenseits zu den Zuschauern spricht, ist Wolfgang Fürstner, ein Wehrmachts-Hauptmann, der verantwortlich war für den Bau und die Organisation des Olympischen Dorfes bei den Sommerspielen 1936 in Berlin. Noch vor Beginn der Spiele wurde er zum Stellvertretenden Kommandanten degradiert, weil er jüdische Vorfahren hatte. Wenige Tage nach der Schlussfeier schoss er sich eine Kugel in den Kopf. Die zweite Protagonistin des Films ist Gretel Bergmann, eine Jüdin und Leichtathletin, die trotz herausragender Leistungen nicht ins deutsche Olympia-Team berufen wurde. Während Fürstners Schicksal in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt ist, erzählte zuletzt Kaspar Heidelbachs Kinofilm „Berlin 36“ Bergmanns Geschichte, wenn auch in einer historisch umstrittenen Version. Das Dokudrama „Der Traum von Olympia“ weicht entscheidend davon ab: Ein als Frau verkleideter Athlet – wie Dora Ratjen in der Realität und Marie Ketteler (Sebastian Urzendowsky) in „Berlin 36“– spielt im Spiegel-TV-Doku-Drama keine Rolle.
Dennoch hat auch der interessante Ansatz von Mira Thiel und Florian Huber seine Tücken. Fürstner und Bergmann sind die Ich-Erzähler, mit ihren Kommentaren werden die zahlreichen Wochenschau-Ausschnitte unterlegt. Und dass es sich dabei nicht um Tagebuch-Auszüge oder Originalzitate handeln kann, wird schon durch die Eingangsszene klar. Zeitgenössische Texte, Monografien, Zeitungsartikel und Interviews nennt Huber als Quellen. Wörtliche Zitate seien darunter nicht, weil von beiden derartiges nicht vorliege. Huber: „Die Schicksale beider Figuren sind jedoch so dokumentiert und nicht erfunden. Wir haben uns daher bewusst dafür entschieden, uns konsequent in die Erzählperspektive der beiden Figuren hinein zu versetzen.“
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Gretel Bergmann emigrierte in die USA, ist mittlerweile über 100 Jahre alt und konnte sich bis in die Gegenwart äußern. Bei dem 1936 gestorbenen Wolfgang Fürstner liegt die Sache naturgemäß anders, er nimmt im Film dennoch einen größeren Raum ein. Das schlägt sich auch in der Inszenierung nieder: Fürstner-Darsteller Simon Schwarz wendet sich im Stile des Brechtschen Theaters häufig direkt ans Publikum und spricht in die Kamera, Sandra von Ruffin als Gretel Bergmann tritt dagegen kein einziges Mal aus ihrer Rolle heraus. Leider wird ein bisschen viel geredet. Es scheint fast so, als müsste jedes Bild, auch jede szenische Auflösung kommentiert oder noch einmal erklärt werden. Und die Sätze, die den Charakteren in den Mund geschoben werden, sind häufig plakativ und wiederholen sich in ihrer inhaltlichen Aussage. „Da kommt was auf mich zugerollt, unaufhaltsam. Aber ich darf mir nichts anmerken lassen. Ein Soldat zeigt keine Schwäche“, murmelt Fürstner, um dann in die Kamera aufzublicken und zu rufen: „Weitermachen!“ Offenbar trauten die Macher der Aussagekraft ihrer eigenen Spielszenen nicht. Dabei lassen die selten Klarheit vermissen. Berlins Polizeipräsident Wolf-Heinrich von Helldorf ist der fiese Nazi mit dem lauernden Blick, Sportfunktionär Carl Diem der geschmeidige Opportunist, der sich mit den Nazis arrangiert und Fürstner widerstandslos fallen lässt. Dazu trägt die Inszenierung bisweilen dick auf: Wenn von Helldorf eines Abends mit einem abgefangenen, an den US-amerikanischen Top-Star Jesse Owens adressierten Brief bei Diem und Fürstner vorstellig wird, wird nicht etwa das Licht angezündet, sondern verschwörerisch im Schein der Taschenlampen verhandelt.
Die überraschende Besetzung mit dem Österreicher Simon Schwarz, der sonst häufig als skurrile Type in Komödien zu sehen ist, ist ein Glücksgriff. Fürstner ringt um Anerkennung bei seiner Ehefrau Leonie und deren Familie. Der Sport bietet ihm die große Chance, doch noch eine bedeutende Stellung einzunehmen. Er nennt ihn seinen „neuen Exerzierplatz“. Und trotz der Demütigungen durch von Helldorf und der Ausgrenzung nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze lässt er keine Zweifel am Regime erkennen. Die Begeisterung für Olympia und die Aufbruchstimmung im Land reißen ihn mit. Obwohl bereits abserviert, freut er sich, „Teil von etwas Großem zu sein – dafür stand der Führer“. Fürstner ist ein Soldat, der sich seinen Stolz bewahren will, eine ambivalente, tragische Figur, der Schwarz mit seiner verschmitzten Leichtigkeit das Pathos austreibt, ohne sie der Lächerlichkeit preis zu geben.
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Dagegen hat es Sandra von Ruffin schwerer, schon weil sie deutlich weniger Spielszenen hat. Meist sieht man sie einsam durchs Stadion laufen, während ihr Vater sie antreibt und ihr Mut zuspricht. Gretel Bergmann war schon nach England emigriert, ehe ihre Familie von den Nazis unter Druck gesetzt wurde, damit sie doch wieder zurückkehrt. Schließlich drohten die USA mit einem Olympia-Boykott, da machte es sich besser, wenn jüdische Athleten scheinbar nicht ausgegrenzt wurden. Allerdings durfte Bergmann nicht gemeinsam mit dem deutschen Team trainieren – bis auf eine Ausnahme. Mira Thiel und Florian Huber inszenieren eine Begegnung mit Bergmanns Hochsprung-Konkurrentin Elfriede Kaun (Annina Hellenthal) in der Umkleidekabine. Für einen kurzen Moment siegt hier der Sportsgeist über die Ideologie. Der Olympia-Start wurde Bergmann letztlich verwehrt. Ihre wütenden, verzweifelten Kommentare sind ein wichtiges Korrektiv, denn Fürstner beklagt zwar seinen eigenen Abstieg, bejubelt aber den Erfolg der Spiele ausgiebig. Das reichhaltige Archivmaterial von den Vorbereitungen und den Spielen selbst, auch von Jesse Owens und dem Leben im Olympischen Dorf, ist eindrucksvoll. Aber es sind eben Wochenschau- und mithin Propaganda-Bilder, die bis heute ihre Wirkung nicht verfehlen – zumal wenn sie überflüssiger Weise mit Fanfarenstößen und Musik im Marsch-Rhythmus unterlegt sind. In der Propaganda lief natürlich alles wie geschmiert. Und Fürstners Kommentare feiern mit, in ihnen schwingt der Stolz auf die eigene Leistung mit: „Sogar ein amtliches deutsches Storchenpaar war mit dabei“, freut sich der Kommandant über die bis ins Detail bedachte Ausstattung „seines“ Dorfes.
Die Propaganda-Wirkung wird eher beiläufig unterlaufen. Mit einem antisemitischen Witz des Polizeipräsidenten, in dem die Verfolgung der Juden nach den Spielen bereits angekündigt wird. Mit wenigen Bildern vom KZ Sachsenhausen und von „Zigeunern“, die aus dem Stadtbild verbannt wurden. Und natürlich wirken Fürstners Kommentare, bedenkt man den weiteren Verlauf der Geschichte, naiv und entlarvend, weil sich in ihnen der fatale Effekt der Spiele spiegelt: Olympia 1936 als monströse Inszenierung, mit dem sich ein verbrecherisches Regime einen friedlichen, weltoffenen Anstrich gab. Es ist zum Gruseln, wie viele der Inszenierungs-Tricks, mit denen der Sport schon damals als Vehikel missbraucht wurde, bis heute gang und gäbe sind. Die Fackeln, die Fahnen, der Gigantismus, das ganze olympische Pathos. Bei der Berliner Eröffnungsfeier schritt ein kleines Mädchen, Carl Diems Tochter, mit einem Blumenstrauß auf den Führer zu und zeigte den Hitlergruß. „Das ließ den großen Staatsmann auf einmal ganz menschlich erscheinen. Das hatte Diem mal wieder schlau eingefädelt“, kommentiert Fürstner. (Text-Stand: 20.6.2016)