Der große Abgang

Jörg Schüttauf, Barbara Auer, Norbert Ehry, Nico Hofmann. Schicksalhaftes Quartett

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Foto Rainer Tittelbach

Frei nach einer wahren Begebenheit zeigt das preisgekrönte Thriller-Drama „Der große Abgang“ (1995), was passieren kann, wenn eine Staatsanwältin ein hohes Tier des organisierten Verbrechens zur Strecke bringen will, ohne Rücksicht auf Verluste. Der Zweikampf wird nicht direkt geführt. Axel Bode, ein Auftragskiller, ist Medium und damit Opfer des Kräftemessens zweier krankhaft zwanghafter Menschen. In der Erinnerung ist Nico Hofmanns top gespieltes, ungemein physisches Justizdrama nach dem Drehbuch von Norbert Ehry eines der ganz großen Fernsehfilme aus der Mitte der 1990er Jahre, als das gute alte Fernsehspiel langsam unter den Druck des kommerziellen TV-Movies geriet.

Wann hat man im letzten Jahr in einem deutschen Fernsehfilm einen solch nachhaltigen Eindruck von physischer Gewalt und psychologischer Dichte zu spüren bekommen? Wann hat man zuletzt ein so starkes Schauspielerensemble gesehen in nicht minder starken Rollen? Und wann gab es einen Film, der sich unaufhaltsam in Richtung Katastrophe fortentwickelte, ohne dabei an Spannung zu verlieren? Schadewalds „Angst“ fällt einem ein – und die beiden anderen Fernsehspiele aus der SWF-Reihe „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“, Justiz-krimis voller Überraschungen, dramaturgischer Brüche und extremer Fall-Konstellationen.

Der große Abgang
„Der große Abgang“. Perfides Spiel der Staatsmacht: die Staatsanwältin (Birgit Doll) & der Kommissar (Roland Schäfer)

Jetzt haben Norbert Ehry und Nico Hofmann das nächste Glanzstück aus dem Rechtsmilieu vorgelegt, jenseits schwarzer Roben und der für gewöhnlich immer etwas dröge wirkenden Gerichtsszenen. Sie zeigen, frei nach einer wahren Begebenheit, was passieren kann, wenn eine Staatsanwältin ein hohes Tier des organisierten Verbrechens zur Strecke bringen will, ohne Rücksicht auf Verluste. Der Zweikampf wird nicht direkt geführt. Axel Bode, ein Auftragskiller, ist Medium und damit Opfer des Kräftemessens zweier krankhaft zwanghafter Menschen. Auch seine Frau wird mit hineingerissen in ein Spiel, in dem der Zweck die Mittel heiligt und das sich zu einem für den Zuschauer ebenso lustvollen wie bedrückenden Reigen gegenseitiger Abhängigkeiten verdichtet. Erschwerend kommt hinzu, dass auch der drogenabhängige Bode mit einer problematischen Persönlichkeitsstruktur ausgestattet ist.

Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit: 1986 erschoss der „St.-Pauli-Killer“ Werner Pinzner in der Haftanstalt den Staatsanwalt, seine Ehefrau und sich selbst. Die Pistole hatte ihm seine Verteidigerin Isolde Oechsle-Misfeld besorgt.

Jörg Schüttauf, in einer Anti-Rolle zu seinem „Fahnder“, spielt ihn eindrucksvoll, als sei er der Sohn von Götz George. In tänzelnd-tobenden Auftritten gibt er seinem mordenden Narziss Konturen – ein Tier, sanft, aggressiv, stets unberechenbar; das Gefängnis ist sein Käfig. Auch Barbara Auer verkörpert in „Der große Abgang“ einen Gegentypus zu ihren bisherigen Rollen: ein schwaches Weib, einfach in ihren Gedanken, ihren kriminellen Mann abgöttisch liebend, ohne Perspektive für ihr weiteres Leben. Sie spielt die Irmgard Bode als still Leidende überzeugend, vor allem physisch: Für den Zuschauer ist das durchaus gewöhnungsbedürftig – die schöne Auer mit ungepflegter Frisur, Augenringe, verheultes Gesicht, fettige Haut.

Der große AbgangFoto: NDR / SWR
Zwischen die Fronten geraten: Axel Bode (Jörg Schüttauf) und seine Frau (Barbara Auer)

Stark auch Kommissar und Staatsanwältin. Sie zelebrierten Gefühle auf Distanz, Zynismus als Überlebensstrategie. Beider unterschwellige erotische Annäherung und ihre beiläufigen Sticheleien boten den notwendigen Kontrast in dieser modernen griechischen Tragödie. Birgit Doll und Roland Schäfer spielten ihre Beziehung zunehmend sanft, eine Beziehung, der der Beruf sichtlich keine Chance lässt. Auch Dietmar Mues wird man nicht so schnell vergessen als Oberfiesling aus der Unterwelt, unnachahmlich seine ekligen Gesten, seine dahingebellten Lautfolgen. Es ist kein Zufall, dass alle fünf Hauptdarsteller großartig sind. Nico Hofmann beweist im Umgang mit seinen Schauspielern eine sichere Hand. Voraussetzung für deren physischen Handlung ist das dicht strukturierte Drehbuch von Norbert Ehry mit seinen feinnervigen Charakteren aus Fleisch und Blut. So lebt am Ende selbst die Inszenierung der Action-Szenen von den Protagonisten. Insbesondere die sepiabraune, hektisch inszenierte Mord-Rückblende, die aus Bodes Perspektive erzählt wird, ist nicht nur eine visuelle Delikatesse nach einer Reihe von Gesprächs- und Verhörszenen; sie charakterisiert auch Bode, seine Sucht, seine Eitelkeit, seine Unberechenbarkeit. Die Tragödie ist unausweichlich.

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Fernsehfilm

SWR

Mit Jörg Schüttauf, Barbara Auer, Birgit Doll, Roland Schäfer, Dietmar Mues, Johanna Klante

Kamera: Hans-Jörg Allgeier

Szenenbild: Thomas Freudenthal

Schnitt: Bernd Lorbiecki

Musik: Frank Strobel

Produktionsfirma: Südwestrundfunk

Drehbuch: Norbert Ehry

Regie: Nico Hofmann

EA: 30.04.1995 21:15 Uhr | ARD

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