Desillusioniert machte Lukas Geier (Philipp Hochmair) vor fünf Jahren Schluss mit seinem Leben als Elitepolizist. Der einstige Hobbymusiker verdiente sich mit einem Zufalls-Hit eine goldene Nase. Geier lebt heute zurückgezogen in den österreichischen Bergen, oberhalb des Gasteiner Tals. Seine Weltflucht hat einen guten Grund. Der Mann, der ein Spezialist für wasserdichte neue Lebensläufe war, kann seine Vergangenheit nicht einfach abschütteln – und er kann, ja er darf vor allem mit niemandem darüber sprechen, nicht einmal mit der Person, mit der er am vertrautesten ist, der toughen Hotelbesitzerin Lara Schnee (Patrizia Aulitzky). Neben den Menschen, denen Geier eine Identität und einigen hier in der Gasteiner Gegend ein neues Zuhause gegeben hat, kennt nur einer sein Geheimnis: Kollege Frank Becker (Herbert Knaup), ein unermüdlicher Ermittler. Und der hat keine guten Nachrichten: Eine VE, die Geier vor 16 Jahren zu „Elisabeth Bergner“ (Lisa Risom Olsen) machte, ist ermordet worden. Auch sie hat sich ein neues Leben aufgebaut. Holt nun der Spuk von damals auch Geier wieder ein? Und wie groß ist die Gefahr für ihn? Auf dem Arm der Toten prangt Geiers Handynummer. Eine Botschaft für ihn und seine ehemaligen Kollegen, für die Salzburger Kommissarin Franziska Conte (Julia Koch) jedoch ein Zeichen, das den Ex-Polizisten verdächtig macht.
Foto: ZDF / Chris Hofer
„Der Geier – Die Tote mit dem falschen Leben“, entstanden nach dem Roman „Tutto Bene“ von Andrea Di Stefano, umkreist ein hochinteressantes Thema, das in herkömmlichen Zeugenschutz-Thrillern so existenziell selten Beachtung findet. Wie leben Menschen, die von heute auf morgen aus ihrer bisherigen Existenz gerissen werden, denen ihre Liebsten abhanden kommen und die sich nicht austauschen dürfen über diese schmerzliche Erfahrung? Wie beeinflusst dies mögliche neue Beziehungen? Wie verändert man sich, wenn man keinem vertrauen kann? Der Film von Christian Werner reißt diese Fragen an – und er zeigt vor allem auch die Parallelen auf, die es zwischen dem aktiven Subjekt und dem Objekt des Identitätswechsels gibt. Denn auch der Herr über die neuen Leben leidet. Und jetzt, wo einer seiner Schützlinge, denen er das Versprechen „Da sind Sie sicher“ gegeben hat, tot ist, überkommen ihn Gefühle tiefer Schuld. Dieser Mann trägt ein Leben lang Verantwortung für all die Menschen, denen er eine Schein-Identität gegeben hat. Und mehr noch als bisher wird dieser Lukas Geier von Zweifeln geplagt. Kann es ein wahres Leben im Falschen geben? „Wir lügen, um Leben zu retten und Verbrechen zu verhindern und um die Welt eines kleines Bisschen besser zu machen“, sagt sein Ex-Kollege, ist sich der guten Sache aber auch nicht mehr so sicher wie früher. Noch skeptischer sieht (und sah bereits vor Jahren) die ehemalige Verfassungsschutzpräsidentin (Jutta Speidel) die riskante Arbeit mit Verdeckten Ermittlern.
Foto: ZDF / Chris Hofer
Dieses doppelte Drama um erfundene Identitäten ist wegen seines Alleinstellungsmerkmals das Herzstück der neuen ZDF-Reihe. Und Philipp Hochmair ist die Idealbesetzung für diesen introvertiert-empathischen Schweiger, der gern weniger verkopft wäre und nicht ewig in seinen Erinnerungen leben würde. Früher besaßen seine Rollen häufig etwas spitzbübisch Charmantes. Ein bisschen was von dieser ironisch angehauchten Lebenslust ist allerdings auch seinem Lukas Geier geblieben. Im Umgang mit seiner besten Freundin, aber auch in den Momenten, in denen sich er und die Salzburger Ermittlerin näherkommen, blitzt in den Interaktionen etwas Spielerisches auf. Und wenn er auf der Bühne steht, im Glitzeranzug, und sein „Tutto Bene“ mehr haucht als singt, dann verdrängt er für kurze Zeit seine Schwermut. Man fragt sich, wie dieses lahme Liedchen zum Hit werden konnte. Vielleicht gibt es ja in „Freund oder Feind“, dem zweiten Film der Reihe, der gerade in Bad Gastein gedreht wird, eine Antwort darauf. Und auch vom Schicksal der Kommissarin und ihrer möglichen Seelenverwandtschaft mit Geier möchte man mehr erfahren, nicht zuletzt auch deshalb, weil Julia Koch wie schon in den beiden etwas anderen Markovics-Landkrimis „Das letzte Problem“ und „Das Schweigen der Esel“ ihre Rolle hochkonzentriert verkörpert. Dass ihre Figur der anderen Frau in Geiers Leben in ihrer (Selbst-)Bestimmtheit gleicht, Koch und Patrizia Aulitzky aber auch äußerlich ein ähnlicher Frauentyp sind, dürfte kein Zufall sein. So schwingt von Beginn an bei aller Spröde von Franziska Conte immer auch eine unterschwellige Erotik mit, wenn sie und Geier sich begegnen.
Dass die Frau aus Salzburg eine Bedrohung für den Ex-Bullen werden könnte, wird zwar behauptet („Ich bin nicht Ihre Gegnerin, aber das kann sich schnell ändern“), ist aber zu keiner Zeit zu erwarten. Als Zuschauer weiß man das. Das ist im Übrigen nicht der einzige Nebenplot, der dramaturgisch ins Leere läuft. Da wird das Überwachungssystem im Hause Geier mehrfach thematisiert, ja sogar der Rechner der Kommissarin gehackt – ohne jede Konsequenz für die Handlung. Es scheint, als ob viele Details aus dem Roman übernommen wurden, ohne sie auf ihre Relevanz für ein 90minütiges Krimi-Drama hin abzuklopfen. Solche Nebelkerzen-Szenen waren wohl auch deshalb nötig, weil sich die Macher nicht klar fürs Drama entschieden haben, sondern den Krimi-Whodunit mitbedienen wollten und dafür sogar Thriller-Momente bemühten. Und weil die Gefahr besteht, dass im Nachgang nicht alles plausibel wirkt, muss auf der Zielgeraden im Dialog viel erklärt werden; ja, notfalls erzählt man die VE-Geschichte gleich zweimal. Filmisch hingegen überzeugt der „Geier“-Auftakt: Regen, das Dunkel der Nacht, ein Unwetter, das metaphorisch aufzieht, reißende Wassermassen, eine Kamera, die die etwas abgerockt wirkenden Prachtbauten umschleicht oder Landschaftstotalen gern mal mit Köpfen in Großaufnahme kontrastiert. Aber auch die Rückblenden, die das Opfer, Lisa Risom Olsen, zur Ikone des kaputten Systems erheben, gehören zu den starken Momenten des Films. Wer Hans Steinbichlers „Das Dorf des Schweigens“ (ZDF, 2016) kennt, weiß allerdings, dass es mit der Location Bad Gastein auch in Sachen Atmosphäre durchaus Luft nach oben gibt. (Text-Stand: 15.8.2024)