Auch wenn er sein Talent zu kriminellen Zwecken genutzt hat: Jürgen Schneider muss ein Genie gewesen sein. Als der hessische Bauunternehmer 1994 pleite machte, stand er bei fünfzig Banken mit insgesamt 5,4 Milliarden Mark in der Kreide. Größter Gläubiger war die Deutsche Bank, deren Vorstandssprecher Hilmar Kopper längst in Vergessenheit geraten wäre, hätte er die deutsche Sprache nicht um ein geflügeltes Wort bereichert: Bei einer Presse-Konferenz kündigte er damals an, die Bank werde die ausstehenden Handwerkerrechnungen begleichen, schließlich seien diese 50 Millionen Mark doch bloß „Peanuts“. Es steht außer Frage, dass der Fall Schneider ein vorzüglicher Filmstoff ist: mit einer charismatischen Hauptfigur, mit gierigen Bankern, die selbst angesichts offenkundiger Schummeleien nicht misstrauisch werden, mit einem nahezu perfekten Schneeballsystem und schließlich einem krachenden Kollaps, der das komplette Konstrukt als Chimäre entlarvte. Diesen Film gibt es bereits: Schon 1996 hat Carlo Rola die Geschichte mit Ulrich Mühe in der Hauptrolle erzählt; die sehenswerte Kinosatire trug den treffenden Titel „Peanuts – Die Bank zahlt alles“. Aus Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte Schneiders hieß der Protagonist zwar Jochen Schuster, aber natürlich war völlig klar, wer gemeint war. Während der Bauunternehmer in Frankfurt eher berüchtigt als berühmt ist, genießt er in Leipzig einen guten Ruf, denn er hatte maßgeblichen Anteil daran, dass das Stadtzentrum ein echtes Schmuckstück geworden ist. Kein Wunder, dass in der federführend vom MDR betreuten Produktion mit dem eher unoriginellen Titel „Der Auf-Schneider“ auch eine gewisse Bewunderung durchschimmert. Der Film bedient sich der Methode des Dokudramas, ist also eine Kombination aus aktuellen Interviews, zeitgenössischem Material und Spielszenen. Diese Arbeitsweise beherrscht hierzulande kaum jemand so perfekt wie Raymond Ley, selbst wenn sein Finanzkrisenfilm „Lehman. Gier frisst Herz“ zuletzt nur bedingt gelungen ist. Bei Ley dienen die Spielszenen nicht der Illustration einer Geschichte, sie sind das Herzstück und in der Regel hochkarätig besetzt; exemplarisch für diese Arbeitsweise ist sein mit dem Grimme-gekrönter Film über die Bombardierung eines Tanklasters im afghanischen Kundus, „Eine mörderische Entscheidung“. Gemessen an Werken einer solchen Qualität ist „Der Auf-Schneider“ allenfalls drittklassig.
Der Film ist im Grunde eine auf 90 Minuten aufgeblasene und damit unnötig breitgetretene Dokumentation. Die Machart hat beim MDR Tradition, wenn auch nicht in dieser Form: Die Beiträge des Senders für die journalistischen Sendeplätze montags im „Ersten“ arbeiten gern mit szenischen Rekonstruktionen, die für ein bisschen Spannung sorgen sollen. Womöglich inspiriert durch die Arbeiten Leys nimmt dieser Teil nun einen ungleich größeren Raum ein, bleibt aber trotzdem bloß Beiwerk, weil er die eigentliche Erzählung nicht etwa ergänzt, sondern nur streckt; der Informationsgehalt der Spielszenen tendiert gegen Null. Reiner Schöne ist zwar eine ausgezeichnete Besetzung für den Baulöwen, zumal er das nötige Charisma mitbringt und allein schon stimmlich imposant ist, aber der weitaus größte Teil der inszenierten Passagen spielt sich in Florida ab, wo dem geflüchteten Ehepaar Schneider die Decke auf den Kopf fällt. Das hätte unter dem Motto „Gefangen im Paradies“ trotzdem ganz interessant werden können, trägt aber nichts zur Geschichte bei und ist stellenweise sogar peinlich, weil sich die Berlinerin Gesine Cukrowski als Hessin ausgibt und überdeutlich zu hören ist, dass dies nicht ihr Mutterdialekt ist. Fast schon grotesk ist eine viel zu lange Silvesterszene im Hotelzimmer. Die Regie der Spiel-Elemente oblag Benjamin Quabeck. Für den dokumentarischen Teil war Christian Hans Schulz verantwortlich, und dessen Part ist deutlich überzeugender. Hätte der MDR auf die bestenfalls konventionell inszenierten Einschübe mit den zum Teil wie eifrige Komparsen agierenden Schauspielern verzichtet, wäre „Der Auf-Schneider“ eine richtig gute Doku geworden. Schulz hat die Interviews mit den Beteiligten sowie die Ausschnitte aus damaligen TV-Berichten über die aufsehenerregende Pleite derart flüssig und informativ miteinander kombiniert, dass die Spielszenen überflüssig sind, zumal sämtliche relevanten Informationen durch den Kommentar geliefert werden.
Der echte Schneider, 1997 zu einer Freiheitsstrafe von gut sechs Jahren verurteilt, aber schon 1999 wieder auf freiem Fuß, taucht außer in den dokumentarischen Ausschnitten erst ganz am Ende mit einem kurzen Statement auf. Auch das ist schade, es wäre sicher interessant gewesen, seine Sicht der Dinge zu erfahren; vielleicht wollte Schulz vermeiden, dass der Film womöglich zu einer Hommage an den einstigen Bauunternehmer gerät. Die anderen Gesprächspartner sind aber ebenfalls sehr interessant, zumal Schulz neben dem ehemaligen ZDF-Journalisten Udo Frank, dem zuständigen Richter sowie dem Staatsanwalt (in den Spielszenen als einziger namhafter Mitwirkender neben Schöne und Cukrowski von Michael Schenk verkörpert) auch mit Michael Prinz von Sachsen-Weimar sprechen konnte. Er war damals bei der Deutschen Bank Leiter der Filialdirektion Mannheim, die Schneider die nötigen Zwischenkredite vermittelt hat, und bezeichnet den einstigen Baulöwen heute als „finanziellen Selbstmordattentäter“. Er hat Schneider als eine Art „Felix Krull“ erlebt, der nicht mehr „zwischen Facts und Fiction“ habe unterscheiden können. Dieser Teil der Geschichte wäre sicherlich spannend gewesen, aber Schulz konzentriert sich auf die Jahre 1994/95. Der Titelzusatz „Aufstieg und Fall eines deutschen Baulöwen“ ist also nicht ganz korrekt, denn es geht vor allem um den Fall. Leerstellen gibt es auch anderswo: ZDF-Reporter Frank spricht davon, dass der Fall Schneider „auch ein Stück Mediengeschichte“ sei, weil die Medien damals weit übers Ziel hinausgeschossen seien. Schulz bedient sich zwar einer Vielzahl entsprechender Ausschnitte und Schlagzeilen, lässt das publizistische Potenzial des Themas jedoch ungenutzt. Das gilt auch für die mutmaßlich spannenden kriminalistischen Anteile: Es gibt diverse Spielszenen mit einer zwanghaft rauchenden Zielfahnderin (Samia Chancrin), aber in den Interviews mit einem früheren BKA-Beamten kommen die Details der Fahndung viel zu kurz. Gegen Ende, als Schneider in Leipzig ein Comeback feiert und aus seinen Memoiren vorliest, heißt es im Kommentar: „Die Leipziger lassen sich eben gern Geschichten erzählen.“ In Sachsen wissen sie vermutlich, was Schulz damit sagen will, aber für den Rest der Republik spricht er in Rätseln. (Text-Stand: 23.9.2018)