Der blonde Mann fühlt sich sichtlich unwohl, als er in das arabische Land kommt. Das ändert sich erst, als er die Tür seines Mietwagens schließt und alles Fremde aussperrt: „Willkommen zu Hause“. 35 Jahre später gäbe es einen Aufschrei, wenn Mercedes noch mal einen derartigen Werbespot veröffentlichen würde. Nele Mueller-Stöfen (Buch und Regie, Jahrgang 1967) kennt ihn ganz sicher, denn der Auftakt ihres beeindruckenden Langfilm-Regiedebüts ist ähnlich gestaltet: Auf dem Weg ins südfranzösische Feriendomizil gerät eine vierköpfige Familie mit ihrem Auto in eine Demonstration. Die Menschen protestieren gegen die hohen Preise, erklärt der Chauffeur. Zu sehen ist wegen des Qualms nicht viel, zu hören umso mehr, es gibt Tumulte und Explosionen. Dann klatscht eine Farbbombe gegen die Scheibe, das Bild wird blutrot.
Foto: Netflix
„Delicious“ hat die Schauspielerin ihren Film genannt. Das passt, wie sich spätestens gegen Ende zeigen wird. Der Arbeitstitel „Das Spiel ist aus“ weckt Assoziationen zu einem 1947 erschienenen Drehbuch von Jean-Paul Sartre. Dessen Drama erzählt zwar eine völlig andere Geschichte, aber der Tonfall ist ähnlich. „Reichtum ist Geschmackssache“ wäre auch ein treffender Arbeitstitel gewesen; so hieß die tiefschwarze britische Komödie „Eat the Rich“ (1987) bei ihrer deutschen TV-Ausstrahlung. Der Titel bezieht sich auf einen Ausspruch des Philosophen Jean-Jacques Rousseau, der im 18. Jahrhundert warnte: „Wenn die Menschen nichts mehr zu essen haben, werden sie die Reichen essen.“
Nach dem Prolog mit den Straßenkrawallen stellt sich erst mal der Mercedes-Effekt ein, als sich das vergitterte Tor hinter der Familie schließt: Auf dem großzügigen Anwesen mit Villa, Pool und Tennisplatz sind die Deutschen abgeschottet von der Außenwelt. Natürlich ist das eine Illusion, wie sich später zeigt, als es sinngemäß heißt: Ganz gleich, wie hoch eure Zäune sind, ihr könnt uns nicht aussperren. Zunächst gilt das jedoch nur für die Marder, die sich auf dem Dachboden tummeln. Nach einem Essen im Restaurant eines luxuriösen Hotels kommt es zu einem nächtlichen Zwischenfall: John (Fahri Yardim) ist einen kurzen Moment unaufmerksam und fährt eine junge Frau an. Gattin Esther (Valerie Pachner) versorgt die Wunde am Arm, Teodora (Carla Diáz) darf über Nacht bleiben, ein paar Scheine sollen über den Schmerz hinwegtrösten. Kurz darauf steht sie wieder vor der Tür: Wegen der Verletzung hat sie ihren Job als Bedienung verloren. Sie bietet sich als Haushaltshilfe an und wird alsbald unverzichtbar, zumal es ihr gelingt, zu den Familienmitgliedern eine jeweils eigene Beziehung aufzubauen. Mitunter genügt ein Bild, um dies zu verdeutlichen: Schon bald hat die Tochter den gleichen Nagellack wie Teodora, die mit simplen Mitteln einen Keil zwischen die Familie treibt, wobei sie wie ein Brandbeschleuniger bloß befeuert, was ohnehin unter der Oberfläche schwelte.
Foto: Netflix
Mit seiner flirrenden Stimmung erinnert „Delicious“ nicht nur an Vorbilder wie etwa Jacques Derays Klassiker „Der Swimmingpool“ (1969) mit Alain Delon und Romy Schneider oder den gleichnamigen Thriller von François Ozon (2003). Viele Filme haben sich die unbeschwerte Urlaubsatmosphäre in der Provence zunutze gemacht, um Geschichten über einen mörderischen Sommer zu erzählen, aber selten hat sich das Grauen derart wirkungsvoll angeschlichen wie hier. Anfangs begnügt sich Mueller-Stöfen mit Andeutungen: Teodoras Blick in die Kamera zum Beispiel oder ihre auf die Marderplage bezogene Warnung, man müsse die Tiere vergiften, sonst besetzten sie das ganze Haus. Tiere spielen ohnehin eine besondere Rolle, mal in Form von Ameisen, die sich, wie aus dem Nichts auftauchend, über Essensreste hermachen, mal in Gestalt eines Froschs, den die elfjährige Tochter aus dem Pool rettet.
Eindrucksvoll verleiht die Regisseurin selbst scheinbar harmlosen Szenen ein subkutanes Unbehagen. Natürlich lebt der ruhig inszenierte, aber sehr durchdacht gestaltete Film (Kamera: Frank Griebe) von der Neugier, was Teodora im Schilde führen mag. Mit zunehmender Dauer wird die zunächst auch mal nur aus einem Ton bestehende Musik (Volker Bertelmann, Ben Winkler) immer präsenter, größer und bedrohlicher, die Bilder werden plakativer. Dass der Unfall fingiert war, wird früh verraten, aber worauf die Handlung schließlich hinausläuft, ist angesichts des Sozialdramas, das der Film über weite Strecken zu sein vorgibt, ein echter Knüller. Die alte Welt, zitiert Teodora den kommunistischen italienischen Schriftsteller, Antonio Gramsci, liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: „Es ist die Zeit der Monster.“