Seit sechs Jahren herrscht Funkstille zwischen Anne (Katharina Böhm) und ihrer Tochter Helene (Hanna Plaß), die sich seitdem Helen nennt. Sie ist damals in die USA ausgewandert, doch jetzt wieder heimgekehrt nach München. Und sie ist nicht allein, hat ihren fünfjährigen Sohn Luke (Lennox Louis Steigerschmid) dabei. Zu ihrer Mutter will sie nach wie vor keinen Kontakt. Dagegen könnte das Verhältnis zu ihrem Vater (Stephan Kampwirth) kaum besser sein. Untergekommen ist sie fürs Erste bei ihrer besten Freundin Stella (Rona Özkan). Was ist der Grund für den Bruch zwischen Mutter und Tochter? Was ist damals vorgefallen? Das letzte Mal gesehen haben sich die beiden am Tag der Beerdigung von Lukas (Luke Matt Röntgen), Helens Bruder. Es kam zum Streit. Ein Wort gab das andere. „Brauchst du mich noch jetzt, wo er tot ist?!“ Viel Wut hatte sich bei der mittlerweile erwachsenen Tochter angestaut. „Dann geh doch, hau ab“, entfuhr es der Mutter. Sie hat diese Worte später bereut, doch Helen hat auf alle ihre Kontaktaufnahmeversuche nicht reagiert. Der heftige Streit war nicht der eigentliche Grund für das Zerwürfnis. Helen fühlt sich ihr ganzes bisheriges Leben von ihrer Mutter nicht gesehen, nicht beachtet, immer nur in der Verantwortung für die Familie, den Bruder. Alle Aufmerksamkeit, besonders die der Mutter, bekam Lukas, der mit einem Gendefekt geboren wurde.
Foto: ZDF / Hendrik Heiden
„Glass Child“ ist ein häufig benutzter umgangssprachlicher Begriff aus der populären Psychologie, der auch immer öfter in den sozialen Medien auftaucht. Gemeint ist genau das, wovon der ZDF-Fernsehfilm „Das gläserne Kind“ erzählt: Weil einem Problemkind die ganze Aufmerksamkeit der Eltern gehört, bleibt wenig – subjektiv gefühlt, nichts – für die anderen Geschwisterkinder übrig. Gibt es nur ein weiteres Kind in der Familie, dann ist die Trauer, die Wut, der Neid, häufig verbunden mit Schuldgefühlen, besonders groß. Das Mutter-Tochter-Drama von Suki M. Roessel nach dem Drehbuch von Alina Schmitt arbeitet sich langsam vor zu jenem Phänomen, das der erwachsenen Tochter geläufiger ist als der Mutter, die sich immer noch auf ihre große Verantwortung dem kranken Sohn gegenüber beruft. Die Zeit der Verdrängung ist vorbei, weil Anne, die im Begriff ist, nach La Palma auszuwandern, ihr Haus in der Nähe von München verkaufen muss und dafür die Zustimmung ihrer Tochter benötigt. Es dauert, bis die beiden ein erstes vernünftiges Gespräch führen. Bei Annes erstem Anruf verschlägt es ihr beim „Hallo“ der Tochter die Sprache. Beim zweiten Mal ist die verunsicherte Helen unfreundlich kurz angebunden: „Mach mit dem Haus, was du willst.“ Annes dritte Annäherung blockiert sie schließlich selbst, weil sie von der Tatsache, dass Helen ein Kind hat und es ihr verschwiegen hat, schwer getroffen ist. Jetzt ist sie verletzt.
Soundtrack: Desireless („Voyage, Voyage“), Camouflage („The Great Commandment“), The Cranberries („Dreams“), Waterboys („The Whole of the Moon“), White Lies („Is My Love Enough?“)
Dieses typische Muster menschlicher Kommunikation, das in der Beschreibung etwas schematisch klingt, vermittelt sich im Film durch das Spiel der beiden Hauptdarstellerinnen durchaus plausibel. Noch kennt man nicht alle Details der Familiengeschichte, doch der Zuschauer weiß durch eine Rückblende bereits von jenem finalen Streit am Abend der Beerdigung. Anders als in den üblichen Herz-Schmerz-Dramen läuft allerdings nicht alles auf ein Riesengeheimnis hinaus, das am Ende des Films gelüftet wird und welches zugunsten der Dramaturgie meist die Glaubwürdigkeit der Geschichte stark beeinträchtigt. In „Das gläserne Kind“ gibt es vielmehr Schlüsselmomente, die die latente Spannung zwischen Mutter und Tochter eskalieren lassen: Einer ereignete sich an dem See, der bereits in einer der ersten Szenen metaphorisch und doch beiläufig auftaucht – und er wird noch ein drittes Mal von Bedeutung sein. Dadurch wird die Geschichte nicht zu einer schweren Familientragödie hochgejazzt, sondern bewegt sich auf alltagsnahem Terrain und ist – ohne aus der Mutter-Tochter-Beziehung einen Themenfilm zu machen – um Lösungsorientierung bemüht.
Foto: ZDF / Hendrik Heiden
Filme, denen sich ein sozialpädagogischer Mehrwert nachsagen lässt, haben bei TV-Kritikern keinen guten Leumund, weil sie in der Regel allenfalls gut gemeint sind. Auf „Das gläserne Kind“ trifft das nur bedingt zu. Überflüssige Sätze wie „Anne, ich glaub’, Ihr müsst dringend mal miteinander sprechen“ oder „Kommt Luke von Lukas?“ bleiben ebenso die Ausnahme wie überdeutliche („Wer bin ich denn jetzt ohne mein Kind?!“). Dramaturgisch verfährt Autorin Schmitt eher nach dem Prinzip Situationen sagen mehr als viele Worte. Man ersieht sich quasi die Geschichte, folgt anfangs Mutter und Tochter parallel und bekommt nach und nach ein Gefühl für deren Beziehung. So kann man die Klöße im Hals der beiden vor dem ersten Kontakt gut nachvollziehen, ja geradezu mitempfinden. Die Geschichte der Annäherung von Mutter und Tochter ist eine Geschichte des Erinnerns – jeder für sich allein. Dadurch wird deutlich, dass beiden Frauen Unterschiedliches im Gedächtnis geblieben ist. So weiß die Mutter, als ob es heute wäre, wie Lukas den Badezimmerspiegel zerschlagen und sich an den Scherben geschnitten hat, während Helen schmerzhaft erinnert, dass sie an jenem Tag drei Stunden später am Blinddarm operiert werden musste. Alles also nur eine Frage der Perspektive? Ja und nein. Es war zu viel, was die Mutter ihrer Tochter als Kind und als Jugendliche aufgebürdet hat. Helens Verletzungen, die sie als Minderwertigkeit ihrer Person empfunden hat, lassen sich nicht mit der schwierigen Lage der Mutter wegrationalisieren. Ein Kind versteht Situationen anders als ein Erwachsener. Helens Ur-Gefühl blieb ihr bis heute erhalten, verkapselte sich in ihrem Körper. Der Film bildet diese psychologischen Muster glaubwürdig ab.
Das Situative, die zahlreichen assoziativen Rückblenden, übernimmt auch Regisseurin Roessel für ihre Inszenierung. Dass sie den Bildern keinen eigenen – ästhetischen – Stellenwert zukommen lässt, stört kaum, ja passt auf den ersten Blick sogar recht gut zu dem im Drehbuch erfrischend undramatisch entwickelten psychologischen Drama; allerdings kann man nicht wissen, was mit mehr filmsprachlicher Sinnlichkeit aus diesem 90-Minüter geworden wäre. An visuellen Metaphern mangelt es hingegen nicht, vom besagten Sternensee, über die Schaukel, die auch ohne die Anwesenheit des kleinen Lukas im ersten Bild in Bewegung ist und in den Luke-Szenen eine neue Bedeutung gewinnt, oder der ersten – magischen – Begegnung zwischen Großmutter und Enkel sowie der sinnhaften Nicht-Begegnung von Mutter und Tochter auf dem Friedhof. Aber auch diese Bilder kippen nicht ins Prätentiöse – und auch die (Ersatz-)Funktion, die Luke für Anne spielt, ist offensichtlich, wird aber nicht übermäßig ausgespielt. Nicht jedes Verhalten muss gleich pathologisch sein. Wichtiger ist, dass „Das gläserne Kind“ auf Schuldzuweisungen verzichtet, dass man als Zuschauer*in beide Seiten der Beziehung zu sehen bekommt und dabei die Sympathien sogar wechseln können.
Foto: ZDF / Hendrik Heiden