Vielleicht sollte man nicht mit dem Gebäude und der Architektur beginnen, schließlich geht es bei einer Krankenhaus-Serie um die Menschen und ihre Gesundheit. Aber der Schauplatz der vierten „Charité“-Staffel ist wirklich außergewöhnlich und auf eine zwiespältige Art der vielleicht wichtigste Hauptdarsteller: Gedreht wurde in Portugal, auf dem 2011 eröffneten Campus der Champalimaud Stiftung, direkt am Fluss Tejo in der Nähe Lissabons gelegen. Die weitläufige Anlage mit den flachen, halbrunden Gebäuden bietet nicht nur optisch einige Möglichkeiten, auch im Inneren scheint die nahe Krankenhaus-Zukunft bereits Einzug gehalten zu haben. Die Dschungel-ähnliche Cafeteria, die etwas Natur in eine Serie voller technologischer und fachspezifischer Details bringt, gibt es dort wirklich. Auch die Tablets, die Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte der Charité im Jahr 2049 meistens mit sich herumtragen, sind dort offenbar bereits Standard – glaubt man dem Promotion-Video. Da wird der Patient im riesigen Foyer persönlich von einer freundlichen Mitarbeiterin empfangen, per Tablet und Smartphone eingecheckt und anschließend von einer App durchs Klinikzentrum geleitet. In der Serie gibt es ebenfalls eine Art Empfangsdame: Frau Kachel (Anne-Kathrin Gummich) sieht allerdings eher wie eine Türsteherin aus, die sich auf eine extravagante Modenschau verirrt hat. Immerhin berlinert da noch jemand im Berlin des Jahres 2049. Zwar werden immer mal einige Stadtansichten aus der Vogelperspektive in die Handlung geschnitten, doch die Charité thront wie ein außerirdisches Raumschiff über der Stadt und das Berlin der Zukunft bleibt außen vor. Auch die private Wohnung der beiden Hauptfiguren Dr. Maral Safadi (Sesede Terziyan) und Dr. Julia Kowalczyk (Angelina Häntsch) liegt an einem fiktiven Ort außerhalb der Stadt, im „Charitédorf“ irgendwo im brandenburgischen Niemandsland. Die (finanziellen) Grenzen der Produktion sieht man bei allem Aufwand auch.
Maral Safadi wird neue Leiterin des Instituts für Mikrobiologie und kehrt mit ihrer Ehefrau, die als Gynäkologin auf der Geburtsstation der Charité zu arbeiten beginnt, aus den USA zurück nach Berlin. Die anfangs glückliche, doch zunehmend kriselnde Paar-Beziehung zwischen den beiden Frauen, der unermüdlichen Spitzen-Forscherin Safadi und der empathischen Geburtshelferin Kowalczyk, bleibt nicht die einzige Liebesgeschichte. Die herkömmliche Krankenhaus-Romanze zwischen Pflegerin und Arzt gibt es auch. Allerdings sind Marlene Hirt (Gina Haller) und der zurückhaltende Neurobiologe Dr. Ferhat Williamson (Timur Işik) Charaktere auf Augenhöhe, ihre Annäherung bleibt ein Randthema und erfolgt nicht im „Junge Frau himmelt Halbgott in Weiß“-Stil. Insofern haben die Drehbuch-Autorinnen Tanja Bubbel und Rebecca Martin das Genre auch in dieser Hinsicht modernisiert. Im Gegensatz zu den Autorinnen und Autoren der ersten drei – historischen – Staffeln konnten sie ihre Zukunftsvision freier entwerfen, weil sie keine berühmten Persönlichkeiten wie Robert Koch, Ferdinand Sauerbruch oder Ingeborg Rapoport miteinbeziehen mussten. Und wie bereits in der dritten Staffel tritt die Lehre in den Hintergrund. Auch wenn Maral Safadi bei zwei Gelegenheiten in einem voll besetzten Hörsaal spricht, spielen Studierende keine Rolle. Der medizinische Teil der Handlung konzentriert sich auf Forschung und Praxis. Ein unbekannter prähistorischer Erreger, der durch die Erderwärmung im schmelzenden Grönland-Eis freigelegt wird, bildet das übergreifende Thema. Doch ein dystopischer Pandemie-Thriller wird trotz eines dramatischen Cliffhangers am Ende der ersten Episode nicht daraus, eher ein etwas zähes Kompetenzgerangel. Drehbuch und Regie bleiben im Krankenhaus, wo es zum Streit zwischen Maral Safadi und Dr. Dylan van Boeken (Moritz Führmann) um die richtige Behandlung ihres Patienten kommt. Klinikchefin Emilia Bonetti, von Jenny Schily sehr eindrucksvoll als Wendehals mit kühler, strenger Ausstrahlung gespielt, schlägt sich mal auf die eine, mal auf die andere Seite.
Safadis bahnbrechender Forschungsansatz, der mithilfe eines Paläo-Bakteriums den Einsatz von Antibiotika überflüssig machen soll, bleibt eher abstrakt. Dennoch wartet „Charité 4“ mit einigem Schauwert und verblüffenden Details über die Medizin der Zukunft auf, die keineswegs pure Science Fiction sind. Gleich zu Beginn zaubert Safadi, wie es scheint, mit bloßen Händen Lichtpunkte in den Hörsaal, die sich zu einem frei in der Luft schwebenden Körper formieren. Durch Handbewegungen ferngesteuerte Roboter führen als verlängerter Arm des Arztes oder der Ärztin Operationen durch. Zur Desinfektion genügt eine UV-Licht-Schleuse. Traumatisierte werden in lebensecht wirkenden Simulationen therapiert. Gelähmte können dank Leggings mit Neurotechnologie wieder laufen oder erleben als Avatare in virtuellen Welten einen Spaziergang am Strand. Hinzu kommt die nachvollziehbar weitergedachte Revolution der menschlichen Kommunikation. Das Smartphone hat ausgedient, der Alleskönner sitzt nun als Knopf im Ohr. Von Künstlicher Intelligenz ist gar keine Rede mehr, weil sie praktisch überall ist. Sprachsteuerung ist selbstverständlicher Alltag, Dialoge in unterschiedlichen Sprachen werden simultan übersetzt. Telefonate verwandeln sich in einen Spaziergang mit Hologramm. Das Krankenhaus ist dennoch kein Ort, in dem allein Technologien zählen. Dafür steht etwa der empathische Umgang von Julia Kowalczyk mit schwangeren Frauen oder die Arbeit von Ferhat Williamson mit einem durch den Unfalltod der Mutter traumatisierten Kind sowie seinen gelähmten Patienten. Auch ethische Fragen werden aufgeworfen, etwa wenn Williamson den Freitod-Wunsch seines Patienten Lars Kirch (Vinzenz Wagner) ignoriert. Und wenn in der sechsten und letzten Episode bei einer Geburt Hand angelegt werden muss, ist das einer der emotionalsten Momente der Serie.
Klug angelegt ist auch das gesundheitspolitische Szenario, das an das chinesische Sozialkredit-System erinnert, aber auch an die bereits existierenden Prämienprogramme der Versicherungen anknüpft: Nur wer gesund lebt und Vorsorge betreibt, hat in Zukunft Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung. Der erste Fall spitzt das Ergebnis der umstrittenen Gesundheitsreform von Minister Thomas Nguyen (Hyun Wanner) wirkungsvoll zu. Einer alten Dame, die von Süßigkeiten nicht lassen kann, wird buchstäblich der Stecker gezogen – die Operation, bei der der Diabetes-Patientin die neue, natürlich aus dem 3D-Drucker stammende Niere transplantiert werden soll, wird in letzter Sekunde abgesagt. Das bringt Charité-Chirurgin Dr. Seda Safadi (Adriana Altaras), eine Gegnerin der Reform, erst recht auf die Palme. Die Mutter von Maral sucht sich Verbündete, um Kranke, die durch das Raster des Systems gefallen sind, in einem still gelegten Trakt („Schattenklinik“) doch noch operieren zu können – heimlich und kostenlos. Hier überschneiden sich das private Familien- und das sozialkritische Gesellschaftsdrama, denn Seda macht Maral, die auch als Beraterin des Ministers tätig ist, für die Reform mitverantwortlich. Adriana Altaras spielt eine Ärztin mit Herz für die Ausgegrenzten, die aber die eigenen Muttergefühle ziemlich gut verstecken kann. Sesede Terziyan wiederum spielt eine brillante Ärztin mit Tunnelblick, die glaubt, es der Mutter niemals recht machen zu können, und die für ihre (medizinische) Überzeugung alles aufs Spiel setzt. Die Sorgen, die ihre Frau Julia umtreibt, bemerkt sie im Kampf ums Überleben ihres Patienten nicht. Für Streit unter den Ehefrauen sorgt auch die Absicht von Julias Sohn Michel (Simon Stache), sich für die europäische Schnelle Eingreiftruppe freiwillig zu melden. Den ausgleichenden Part im Familiendrama hat Sedas Mann und Marals Vater Nils (Jan-Gregor Kremp).
Das Szenario ist interessant, die Kulisse und das Design der künftigen Möglichkeiten der Medizin sind aufregend – doch erst in den letzten beiden Episoden wird es wirklich lebendig, dramatisch und emotional. Zuvor wirkt die Charité wie eine Forschungseinrichtung, in die sich ab und zu ein paar Patienten verirren. Der Preis für den ausladenden portugiesischen Schauplatz ist, dass die Menschen in den oft großen Räumen verloren wirken. Und die futuristische Modernität verströmt Kühle und eine bisweilen sektenartig anmutende Abgehobenheit. Zu selten gelingt es dem Drehbuch und der Inszenierung, die vielen spannenden Themen an diesem Schauplatz auch in eine mitreißende Erzählung zu verwandeln. Die Umweltkrise setzt prähistorische Erreger frei und bedroht Mütter und ihre ungeborenen Kinder wegen den Mikroplastikteilchen im Blut. US-Amerikaner von der Westküste fliehen wegen ständiger Brände nach Europa. Aber die Hitzewelle vor der Tür bleibt behauptet, „Charité 4“ ist praktisch komplett klimatisiert. Wie sich Krankenhaus-Alltag, die Finanzmisere im Gesundheitswesen und gesellschaftliche Konfliktstoffe in einer temporeichen Serie erzählen lassen, konnte man erstmals schon vor 30 Jahren erleben, als „Emergency Room“ das Genre revolutionierte. Aber das Country General Hospital lag mitten in Chicago, und ob die Charité in ihrer vierten Staffel überhaupt eine Notaufnahme hat, erscheint angesichts ihrer Abgeschiedenheit zweifelhaft. (Text-Stand: 18.3.2024)