Boom

Lea Drinda, Alicia von Rittberg, Collien Ulmen-Fernandes. Die KI, die zu viel wusste

Foto: MDR / ARD Kultur / Lukas Schmidt
Foto Tilmann P. Gangloff

Tic Tac Toe trifft HAL, den Supercomputer aus „2001“: Das von ARD Kultur in Auftrag gegebene TV-Drama „Boom“ (Drive Beta, Lukas & Ben) beschreibt äußerst kurzweilig die letzten Zuckungen einer erfolgreichen Girlgroup. Star der knallbunten knapp einstündigen Dramedy ist jedoch eine Künstliche Intelligenz: Als Merchandising-Knüller soll gleichzeitig mit dem neuen Album ein KI-gesteuerter Sprachassistent auf den Markt kommen. Als sich herausstellt, dass die Software auch die dunkelsten Geheimnisse der drei jungen Frauen kennt, suchen sie verzweifelt nach einem Ausweg. Nicht nur höchst ungewöhnlich für die ARD, sondern auch innovativ: Die Mitwirkenden (unter anderem Lea Drinda und Alicia von Rittberg) wussten vorab nicht, womit die KI sie konfrontieren würde.

Zumindest die Spätgeborenen unter den Millennials werden sich nicht mehr an Tic Tac Toe erinnern: Zwei Jahre lang war die Girlgroup ein echter Knaller, dann trennte sich das Trio 1997 im Rahmen einer spektakulären Pressekonferenz. Prompt hielten sich zunächst hartnäckige Gerüchte, der Schlussstrich sei inszeniert gewesen, aber zu einem allerdings kommerziell eher erfolglosen Comeback der von einem cleveren Management zusammengestellten Formation kam es erst acht Jahre später. Ein Film über dieses sternschnuppenartige Phänomen, das mit Hits wie „Ich find dich scheiße“ oder „Verpiss dich“ und rotzigen Texten bei Erwachsenen und der etablierten Musikkritik wenig, bei der jugendlichen Zielgruppe aber umso mehr Anklang fand, käme vermutlich knapp zwanzig Jahre zu spät. Deshalb erzählt „Boom“ eine ganz andere Geschichte: Tic Tac Toe trifft HAL, den Supercomputer aus „2001“.

Auftraggeber der Produktion ist ARD Kultur, das Webportal für alle Kultursendungen der ARD, und schon das ist ungewöhnlich. Für die Geschichte, die mit dem ARD-Etikett „SciFi-Dramedy-Impro“ nur sehr unvollständig beschrieben ist, gilt das nicht minder. Im Wesentlichen geht es um drei junge Frauen, die gemeinsam „Boom“ sind, der neue Stern am deutschen Pop-Himmel. Weil sich die kranke Managerin (Collien Ulmen-Fernandes) daheim die Seele aus dem Leib kotzt, muss ihre Assistentin Paule (Alicia von Rittberg) einspringen. Das wäre im Prinzip kein Problem, aber es gibt noch eine weitere Mitwirkende: Parallel zum Album wird die „Boom Bubble“ auf den Markt kommen, ein von einer Künstlichen Intelligenz gesteuertes Sprachassistenzsystem.

BoomFoto: MDR / ARD Kultur / Lukas Schmidt
Assistentin Paule (Alicia von Rittberg) muss für ihre kranke Chefin einspringen und die gehypten Boom vermarkten.

Während sich Izzy (Sira-Anna Faal) in den Wellness-Bereich zurückgezogen hat, sollen sich Peggy und Sue (Lea Drinda, Via Jikeli) schon mal mit dem digitalen Zwilling der Kollegin anfreunden. Izzy 2 entpuppt sich jedoch nicht nur als unerwartet aufmüpfig, sie neigt auch zu beißendem Sarkasmus. Viel schlimmer ist allerdings, dass sie die dunklen Geheimnisse des Trios kennt, und da ihre Software über den Server mit allen anderen „Boom Bubbles“ verbunden ist, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis die Medien dieses Wissen ausschlachten. Die Verbreitung der Boxen muss daher um jeden Preis verhindert werden, und ausgerechnet die KI selbst hat eine Idee, wie das funktionieren kann.

Soundtrack: The Prodigy („Firestarter“), Sinead O’Connor („Nothing Compares 2 U”), The Knife („Pass This On”), The Buggles („Video Killed The Radio Star”), Dennis Kamakahi („Pua Hone”), Peaches („F**k The Pain Away”), Jefferson Airplane („White Rabbit”), Destiny’s Child („Survivor”), Cigarettes After Sex („Apocalypse”), George Baker Selection („Little Green Bag”), Tic Tac Toe („Verpiss dich”)

„SciFi” (Science Fiction) ist klar, „Dramedy” – das deutsche Pendant „Tragikomödie” wäre hier in der Tat deplatziert – auch. Bleibt noch die Frage, was es mit „Impro“ auf sich hat, und nun kommt wieder die Künstliche Intelligenz ins Spiel. Wenn weder die ARD noch die Produktionsfirma gemogelt haben, dann ist der digitale Zwilling tatsächlich eine KI, die vorab unter anderem mit dem Handlungsrahmen und den Beschreibungen der Figuren gefüttert worden ist. Bei den Gesprächen mit der „Boom Bubble“ wussten die Schauspielerinnen demnach nicht, was die KI von sich geben würde, und mussten spontan reagieren. Das ist derart gut gelungen, dass diese Szenen mit Abstand die besten des überlangen Kurzfilms sind; und viel sinnvoller als eine Tortenschlacht zwischen Sue und Izzy, die trotz Zeitlupe schon deshalb nicht überzeugen kann, weil bloß eine und zudem noch ziemlich kleine Torte im Spiel ist. Überflüssig sind auch die Gastauftritte von Eko Fresh, der das Publikum aus der Badewanne zur Impro „Mensch gegen Maschine“ begrüßt; wirklich rechtfertigen lässt sich seine Mitwirkung nur, weil er zwischendurch erklärt, wer Tic Tac Toe war. Gülcan Kamps sorgt als Reporterin im „Brisant“-Stil für die Informationen rund um „Boom“.

BoomFoto: MDR / ARD Kultur / Lukas Schmidt
Nach „den letzten Zuckungen“ einer erfolgreichen Girlgroup sieht das nicht aus. Oder ist in „Boom“ einfach alles nur Showbiz? Via Jikeli (Berliner Ensemble), Sira-Anna Faal („Oh Hell“, „Pauline“) und Lea Drinda („Becoming Charlie“, „Der Greif“) in „Boom“

Umso sehenswerter sind die vier Hauptdarstellerinnen, zumal Lea Drinda nach Serien wie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ (Prime Video, 2021), „Becoming Charlie“ (ZDF, 2022) oder zuletzt „Wer wir sind“ /ARD, 2023) erneut ihre Wandlungsfähigkeit beweist. Gelegentlich stammeln und stottern die „Boom“-Darstellerinnen ein bisschen viel, doch die unterschwelligen Zwistigkeiten vermitteln sie ebenso ausgezeichnet wie Alicia von Rittberg Paules Panik, als die Assistentin unerwartet viel Verantwortung übernehmen muss. Ausstattung und Kostüm sind betont bonbonbunt, der Schnitt ist zuweilen unnötig hektisch, aber unterm Strich ist „Boom“ ein kurzweiliges Vergnügen, zu dem nicht zuletzt die abwechslungsreiche Song-Auswahl von Jefferson Airplane bis zu, natürlich, Tic Tac Toe, beiträgt. Sehenswert ist auch die Bildgestaltung (Sina Diehl), die Assoziationen zum Kubrick-Klassiker „2001 – Odyssee im Weltraum“ weckt, wenn das Trio aus der Perspektive der KI zu sehen ist; dass ihr „Auge“ gelegentlich ein bedrohliches Rot annimmt, ist eine deutliche Reminiszenz an HAL. Ihrem Stammpublikum im „Ersten“ will die ARD das kurze Langfilmdebüt von Koautorin Hanna Seidel (die Leitung des Drehbuchteams hatte Martina Chamrad) trotzdem nicht zumuten; bislang ist bloß eine Ausstrahlung am Samstag um 0.30 Uhr im dritten Programm des MDR geplant. (Text-Stand: 21.1.2024)

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Fernsehfilm

ARD

Mit Lea Drinda, Alicia von Rittberg, Via Jikeli, Sira-Anna Faal, Collien Ulmen-Fernandes, Gülcan Kamps, Eko Fresh

Kamera: Sina Diehl

Szenenbild: Patricia Lisink

Kostüm: Christina van Zon

Schnitt: Tobias Wieduwilt

Musik: Lars Stark

Redaktion: Franciscus Wenner

Produktionsfirma: Drive Beta, Lukas & Ben

Produktion: Karl Heidelbach, Lukas Lankisch

Headautor*in: Martina Chamrad

Drehbuch: Martina Chamrad, Julia Hingst, Hanna Seidel – Idee: Hannes Jakobsen

Regie: Hanna Seidel

EA: 07.02.2024 10:00 Uhr | ARD-Mediathek

weitere EA: 10./11.02.2024 0:30 Uhr | MDR

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