Zum wiederholten Mal in diesem Jahr erzählt die ARD-Tochter Degeto mit „Bingo im Kopf“ die Geschichte eines abgehalfterten Schlagerstars. Womöglich lief die entsprechende Redaktionsbesprechung ja so ab: „Ich habe hier den Vorschlag für eine Komödie über einen Sänger, dessen große Zeit zwanzig Jahre zurückliegt.“ „Das hatten wir doch gerade erst bei ‚Camping mit Herz’.“ „Und wenn der Sänger einen ehrgeizigen Manager hat, der ein großes Comeback plant? „Ach, wie in ‚Echte Bauern singen besser’?“ „Dann schicken wir ihn eben zum Auftanken in seine Heimat, dort läuft er dann seiner früheren Freundin über den Weg, das geht immer.“ „Wer soll den Sänger denn spielen?“ „Pasquale Aleardi, der hat doch eine eigene Band.“ So einfach kann Fernsehen sein.
Das Ergebnis dieses Gespräch heißt „Bingo im Kopf“, und Aleardi ist tatsächlich einer der wenigen Gründe, die das Einschalten lohnenswert machen. Mit seiner Band „The Big G“ singt er zwar völlig andere Lieder, aber Musik ist für ihn weit mehr als bloß ein Steckenpferd; davon profitierten schon das ZDF-Musical „Nur eine Nacht“ (2013) und die romantische Sat-1-Komödie „Für Emma und ewig“ (2017), in der er einen Sänger spielte, der einst seinen einzigen Hit für seinen damaligen Sommerschwarm geschrieben hat. Der Handlungskern des Drehbuchs von Markus B. Altmeyer (nach einer Idee von Nils Willbrandt) ist also zunächst nicht sonderlich originell: Mirko Mortauk (Aleardi) kann seinen Neunziger-Jahre-Hit „Bingo“ selbst nicht mehr hören und muss ein Konzert abbrechen, weil seine Kräfte schwinden. Manager Siggi (Henry Hübchen) rät ihm, für ein paar Wochen auszuspannen, am besten auf dem Hof seiner Eltern in Oberbayern. Mama Mortauk (Gundi Ellert) freut sich, dass er mal wieder vorbeischaut, zumal er gerade recht kommt: Die Leiterin des örtlichen Chors ist soeben Mutter geworden, und ausgerechnet jetzt steht ein Gesangswettbewerb an. Zum Chor gehört neben Mirkos verwitweter Schwester Elena (Marie Leuenberger) auch Jugendliebe Rosa (Eva Herzig). Beide Frauen haben überhaupt keine Lust, mit ihm zusammenzuarbeiten, und auch im Umfeld hält sich die Begeisterung in Grenzen, weil alle glauben, der Schlagerfuzzi wolle sich auf Kosten des Wettbewerbs profilieren. Prompt will Mirko aufgeben, doch dann sorgen einige zum Teil tragische Ereignisse bei allen Beteiligten für einen grundlegenden Sinneswandel; und selbstredend kommt sich auch das einstige Liebespaar wieder näher.
Foto: Degeto / Thorsten Jander
TV-Spielfilm sieht „Bingo im Kopf“ etwas lockerer:
„Klischee olé: Natürlich findet Mirko zur Kreativität zurück und versöhnt sich mit der Familie. Die Wohlfühlkomödie überrascht allerdings auch mit Ehrlichkeit und frechem Witz … Viel Routine, aber auch Herz und leiser Charme“
Mal abgesehen von der Ebene mit dem Chor folgt die Handlung dem „Heimkehrer(in) trifft Jugendliebe“-Muster, das die Degeto quasi ständig und das ZDF in seinen Sonntagsfilmen ebenfalls regelmäßig bemüht; das Prädikat „einfallslos“ wäre für dieses Schema noch viel zu freundlich. Dass Autor Altmeyer und Regisseur Christian Theede auch ganz anders können, haben beide oft genug bewiesen: der eine mit seinen Büchern zu „Letzte Ausfahrt Sauerland“ (2015, Degeto), einer Tragikomödie, die eigentlich ein Krebsdrama ist, und zuletzt mit der ungewöhnlichen Autistenromanze „Verliebt in Valerie“ (2019); der andere mit diversen Arbeiten für unterschiedlichste Genres, vom Multimedia-Mystery-Projekt „Kill your Darling“ (2009, ProSieben) über den Familienzweiteiler „Till Eulenspiegel“ (2014, ARD) bis hin zu seinen Episodenbeiträgen zu Krimireihen wie zuletzt „Nord Nord Mord“ („Sievers und die Tote im Strandkorb“) und „Sarah Kohr“ („Das verschwundene Mädchen“, beide 2019, ZDF).
Foto: Degeto / Thorsten Jander
Gemessen an diesen Produktionen ist „Bingo im Kopf“ eher schlicht, zumal auch der Schauplatz ins Bild passt: Mirkos Heimat ist das oberbayerische Alpenvorland, damit Kameramann Timo Moritz immer wieder mal strahlend sonnige Landschaftsbilder einfangen kann (gedreht wurde in Murnau am Staffelsee); die Innenaufnahmen etwa in der Kirche sind gern in ein übernatürlich schönes Licht getaucht. Das Bayernklischee wird abgerundet durch Gundi Ellert, die seit Jahren ständig die Rolle der resoluten Gattin und Mutter spielen muss. Klischees finden sich auch in den anderen Figuren: der Patriarch (Peter Prager), der einst der Familie zuliebe seine Karriere als Boxer aufgegeben und seinen Ehrgeiz stattdessen auf den Nachwuchs projiziert hat; Mirkos Teenager-Nichte (Aleen Jana Kötter), die seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr spricht; der junge Mann (Tom Gronau), der seit einem Sportunfall verbittert im Rollstuhl sitzt; die korpulente Frau, die schon in Kindertagen als „fette Elke“ (Barbara Bauer) gemobbt wurde. Sie alle finden dank Mirko zu neuem Lebensmut, denn er fordert sie auf, ihren Schmerz in Musik zu verwandeln; und so wird aus dem bunt zusammengewürfelten Chor eine Schicksalsgemeinschaft. Diese Ebene ist tatsächlich schön erzählt und gut gespielt, zumal das Ensemble auch gut zusammengestellt ist; einzig Prager und Ellert scheinen etwas miteinander zu fremdeln, wirken nicht wie ein Ehepaar auf dem Weg zur Goldenen Hochzeit.
Sehenswert ist „Bingo im Kopf“ vor allem wegen Pasquale Aleardi, der ein wirklich guter Musiker ist. Die Darbietungen des Chors, dessen Lieder ebenso wie Mirkos Hit eigens für den Film komponiert worden sind, können sich gleichfalls hören lassen; deshalb ist es auch völlig angemessen, dass das Finale, als die einzelnen Mitglieder ihre Gefühle in Liedzeilen fassen, so ausführlich ist. Schauspielerisch keine große Herausforderung, aber trotzdem amüsant ist auch die Gastrolle von Henry Hübchen als Mirkos Managerfossil („Chorwettbewerb? Ist der schwul geworden?“), der seinen Sänger mit dem schauerlichen Rap-Remix – er spricht „Remix“, wie man’s schreibt – endgültig in eine Krise stürzt. (Text-Stand: 24.9.2019)