Die Frau an der Kasse, der Mann auf der Straße
Einsamkeit macht erfinderisch. Emma, die als Kassiererin im Supermarkt arbeitet, hat einen Trick: Sie lässt Portemonnaies von Kunden mitgehen, um sich später als ehrliche Finderin zu präsentieren. Beim Abholtermin steht dann ein opulentes Mahl auf dem Tisch. Da sagt zwar kaum einer nein, aber so richtig Lust auf die Geschichten einer wildfremden Frau haben doch die wenigsten. Bei dem Obdachlosen August, den sie anfangs absolut nicht als möglichen Gast ausgeguckt hat, stehen die Chancen vermeintlich besser. Denn es ist ein eisiger November, der Mann hat Bronchitis – und er hat was gut bei Emma. Denn er kennt ihr kleines Geheimnis, und er hat sie nicht verraten, als er von der Polizei für ein abhanden gekommenes Portemonnaie verantwortlich gemacht und festgenommen wurde. Doch so einfach ist das nicht mit diesem August: er trägt einen Adelstitel, lebt seit 15 Jahren auf der Straße und reagiert allergisch auf Almosen. Dem strengen Geruch seiner Kleidung zum Trotz versteht er sich als Lebenskünstler, der sich das nötige Kleingeld mit Folksongs zur Gitarre verdient und mit dem bürgerlichen Leben abgeschlossen hat. Als Emma den schwer fiebrigen August förmlich in ihr Zuhause zwingt, lässt er sich dann doch bereitwillig von ihr aufpäppeln, bevor auch er ihr eine ganze Menge zurückgeben kann: Glücklichsein aus eigener Kraft.
Soundtrack: Elvis Presley (u.a. „In the Ghetto“ / „Jailhouse Rock“ / „Suspicious Minds“ / „Musi i denn…“ / „Love me tender“ / „Are you lonesome tonight“ / „What a wonderful Life“, „Early Morning Rain“), Michael Bublé („Fever“)
Stimmige Charaktere machen die Geschichte
August: „Ich bin kein Bettler.“ Emma: „Dat seh’ ich.“ August: „Sie sehen ja auch nicht aus wie ’ne Diebin.“ Was Schnauze und Sarkasmus angeht, da nehmen sich diese beiden Berliner Typen der ARD-Tragikomödie „Besuch bei Emma“ nichts. Jeder liebt es trocken und direkt – warum lange herumreden, das Leben ist zu kurz für unehrlichen Schmus. Vor allem Kratzbürste Emma projiziert auch gern die eigene Unzufriedenheit auf die wenigen anderen Menschen, die sie gelegentlich um sich hat. Trotz guter Vorsätze vergehen beim Essen mit Tochter und Schwiegersohn in spe keine zehn Sekunden – und sie beißt sich an etwas fest. Diese Frau ist nicht nur einsam, sie ist vom Leben frustriert und erste Anzeichen tiefer Verbitterung machen sich bei ihr breit. August dagegen, dem der Husten zusetzt und der sich ständigen Beleidigungen seiner Mitmenschen ausgesetzt sieht („Verpiss dich, du asoziales Schwein“), erträgt sein Leben mit Gleichmut und Witz. „Rückblickend betrachtet hat sich das wirklich gelohnt, mich für Sie verhaften zu lassen.“ Dieser Satz bringt nicht nur die Situation auf den Punkt; in ihm spiegelt sich auch das Wesen der männlichen Hauptfigur: Da schwingt ein bisschen Ironie und Stichelei mit, aber vor allem spricht aus diesem Satz eine tiefe Gelassenheit (schließlich hat er ja schon so vieles mit der Polizei erlebt). Henry Hübchen spielt das fein akzentuiert, sodass man ihm sogar die blaublütige Abstammung und das Pech im Glück abnimmt, das seinem August einst widerfahren ist. Die Rolle ist vielschichtiger als die zu läuternden Charmeure, auf die er zuletzt im Fernsehen abonniert war und die er im Vorbeigehen spielt. Im Duett mit Dagmar Manzel darf er mal wieder richtig was zeigen.
Sensibel erzählter Film statt banale Selbstfindung
Das Herzstück des wunderbar unaufgeregt, mit einem angenehm beiläufigen Realismus ohne die üblichen Fallhöhen-Tricks erzählten Films aber ist – wie es der Titel andeutet – Emma, die Berliner Kassiererin, diese nicht nur vereinsamte, sondern auch reichlich verunsicherte Frau, die sich nicht einmal traut, allein Essen zu gehen („Was sollen denn da die Leute von mir denken“). Das Drehbuch von Karlotta Ehrenberg lotet diese graue Maus, die gerade 51 geworden ist, mit all ihren Bedürfnissen und Ängsten vielschichtig aus. Sie sitzt zwar „nur“ hinter der Kasse und erklärt sich die Welt gern mal mit Vorurteilen (beispielsweise gegenüber Studenten), aber sie macht sich auch so ihre Gedanken und vor allem ist sie ein Mensch, der sich zwar häufig störrisch gibt, aber der zu großer Sorge und Empathie fähig ist. Dass das nicht immer fürs eigene Ego gut ist, verklickert ihr August, ihr Besuch von der Straße. Dagmar Manzel haucht nicht nur diesem Drehbuch ohne Unterschicht-Klischees Leben ein, sie macht aus ihrer Emma eine rundum glaubwürdige Person: eine Frau, die alleine lebt, ohne hippe Single-Allüren, dafür mit vielen Erinnerungen, einem eingefahrenen Alltag, verfahrenen „Beziehungen“ und einem Hang zum kommentierenden Beiseitesprechen. Selbst ihre finale Wandlung zu größerer Selbständigkeit und Unabhängigkeit ist durchaus angelegt in dieser Figur, die ihren eigenen Kopf hat – und so müssen Autorin Ehrenberg und Regisseur Ingo Rasper („Zu mir oder zu dir?“), Experte für Komödien mit Tiefgang, nicht die beliebten märchenhaften Momente bemühen. Daraus ergibt sich kein genrehöriges Wohlfühlende, sondern ein ehrliches gutes Gefühl, das man für diese Emma empfindet. Psychotherapeuten würden wohl sagen: Diese Frau ist auf einem guten Weg. Mit solchen Gemeinplätzen verschont einen dieser Film erfreulicherweise. Und so erzählt „Besuch bei Emma“ keine jener von der Ratgeberkultur infizierten Selbstfindungsgeschichten, sondern ist in erster Linie ein sensibel erzählter Film über eine Frau um die Fünfzig. (Text-Stand: 19.9.2015)