Zwischen den Jahren

Peter Kurth, Karl Markovics, Lars Henning. Vergebliche Reue, vergessene Moral

Foto: WDR / Frank Dicks
Foto Tilmann P. Gangloff

Ein Mann um die sechzig vor den Trümmern seines Daseins: Solche Rollen sind wie geschaffen für Peter Kurth. Kein Wunder, dass „Zwischen den Jahren“ (WDR, Arte / Radical Movies) an Filme wie „Herbert“ (2015) oder „In den Gängen“ erinnert, in denen der Schauspieler mit den markanten Gesichtszügen ganz ähnliche Figuren verkörpert hat: Der Mörder Becker versucht nach verbüßter Haftstrafe einen Neuanfang, wird jedoch von seiner Vergangenheit eingeholt. Lars Henning erzählt eine typische Rachegeschichte, hat die gewohnte Täter/Opfer-Konstellation jedoch kurzerhand umgedreht. Sehenswert ist auch die Bildgestaltung; Henning und Kamerafrau Carol Burandt von Kameke veranschaulichen die Trostlosigkeit des anonymen Großstadtlebens mit Bildern von eindrucksvoller Tristesse.

Ein Mann um die sechzig vor den Trümmern seines Daseins: Diese Rolle hat Peter Kurth in den letzten Jahren öfter verkörpert. Der wuchtige Schauspieler bringt die richtige Physiognomie für solche Figuren mit: Er hat ein Gesicht, in dem das Leben seine Spuren hinterlassen hat. Sein sparsames Spiel lässt viel Raum für Projektion; er kann Verlorenheit ausstrahlen wie kaum ein anderer, aber auch eine mit Stärke gepaarte Verletzlichkeit andeuten, die nachvollziehen lässt, warum sich Frauen zu diesem Mannsbild hingezogen fühlen. Kurth hat diesen Typus in zwei Kinofilmen von Thomas Stuber zur Perfektion geführt. Für „Herbert“ (2015), die Geschichte eines Ex-Boxers, wurde er mit dem Deutschen Filmpreis als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet, in „In den Gängen“ (2018) spielte er eine ganz ähnliche Rolle.

„Zwischen den Jahren“ wirkt wie der dritte Teil einer Trilogie, doch dieser Film ist von Lars Henning (Buch und Regie) und zeitlich zwischen den beiden anderen entstanden. Erneut verkörpert Kurth einen Gestrauchelten: Becker war lange im Gefängnis und versucht, ein neues Leben zu beginnen. Er findet sogar eine Frau, Rita (Catrin Striebeck), doch dann holt ihn die Vergangenheit ein. Henning erzählt ein klassisches Rachedrama, dessen Reiz im Wechsel der Perspektive liegt, weil er die Täter/Opfer-Konstellation auf den Kopf stellt; in der Regel werden solche Geschichten so konzipiert, dass sich die Zuschauer automatisch mit dem Rächer identifizieren. Becker hat einst als  Einbrecher eine Frau und ein kleines Mädchen getötet. Er wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, aber nach 18 Jahren auf Bewährung entlassen. Für den Ehemann und Vater, Benedikt Dahlmann (Karl Markovics), gibt es dagegen keinen Neubeginn; er wird ein Leben lang unter dem Verlust seiner Familie leiden. Weil Henning die Handlung aus Sicht von Becker erzählt, wird der Täter zum Opfer: Wie ein ruheloser Geist streift Dahlmann durch sein Leben. Erst lässt er seine Wut an Beckers Wohnung aus, dann an seinem Hund und schließlich an Rita. Spätestens jetzt ist klar, dass erst der Tod den Rachefeldzug beenden wird; die Frage ist nur, wer sterben wird.

Zwischen den JahrenFoto: WDR / Frank Dicks
Hat man als verurteilter Mörder ein Recht auf eine zweite Chance im Leben? Der wortkarge Einzelgänger Becker (Peter Kurth) wird nach 18 Jahren aus dem Gefängnis entlassen und hat nur noch ein Ziel: neu starten und seine schreckliche Tat von damals hinter sich lassen.

Die ARD zeigt „Zwischen den Jahren“ (die Geschichte spielt zur Weihnachtszeit) im Rahmen der Reihe „Debüt im Ersten“. Der Film ist jedoch bereits Hennings zweite Regiearbeit. Zuvor hat er für den Hessischen Rundfunk „Kaltfront“ (2016) gedreht, ein ausgezeichnet gespieltes Drama über vier Menschen, deren Lebenswege durch ein Verbrechen miteinander verknüpft sind. Später ist ebenfalls im HR-Auftrag „Der Turm“ (2018) entstanden, ein „Tatort“ aus Frankfurt über mysteriöse Vorgänge in einem Bürohochhaus. Ähnlich wie Stuber pflegt Henning einen fast puristischen Realismus. Während Stuber seinen Bildern jedoch eine Art Poesie abgewinnt, erinnert Hennings Nüchternheit zuweilen an die Arbeiten der sogenannten Berliner Schule, für die vor allem die Filme Christian Petzold stehen; „Kaltfront“ wirkte wie der erfolgreiche Versuch, den Bildern jedes Wohlbefinden auszutreiben, und die Anmutung von „Der Turm“ verbreitete mit ihren fahlen Farben Endzeitstimmung.

Bei „Zwischen den Jahren“ stand Carol Burandt von Kameke, die auch „Der Turm“ fotografiert hat, vor einer Herausforderung ganz anderer Art: Sie musste gewissermaßen Licht ins Dunkel bringen, denn Becker führt ein Dasein in Finsternis. Weil der Ex-Häftling in der Nachtschicht eines Wachschutzes arbeitet, tragen sich weite Teile der Handlung im Zwielicht zu. Becker lebt zudem an der Peripherie der Gesellschaft, und das nicht nur im übertragenen Sinn: Die Lagerhalle, die er bewacht, befindet sich in einem Kölner Industriegebiet, seine Wohnung in einem Wohnsilo; Henning und die Kamerafrau veranschaulichen die Trostlosigkeit des anonymen Großstadtlebens mit Bildern von bedrückender Tristesse. Wie konsequent der Regisseur auf Spektakel verzichtet hat, verdeutlicht seine Inszenierung eines Raubüberfalls, den der Film nur aus Sicht der Überwachungsmonitore zeigt.

Zwischen den JahrenFoto: WDR / Frank Dicks
Und irgendwann wird der Täter zum Opfer: Peter Kurth als Ex-Knacki Becker in „Zwischen den Jahren“

Da Becker tagsüber schläft, beschränkt sich sein Kontakt zu den Mitmenschen auf den armenischen Kollegen Barat (Leonardo Nigro); erst Putzfrau Rita holt ihn aus seiner Isolation. Hennings Regieführung ist jedoch genauso lakonisch wie sein Antiheld, der beispielsweise eine Frage nach seinem Wohlbefinden denkbar knapp beantwortet: „Muss.“ Ein weihnachtlicher Kurzbesuch beim JVA-Pfarrer genügt, um anzudeuten, wie er im Knast die Kurve gekriegt hat. Wozu der Mann trotzdem immer noch fähig ist, zeigt eine Kneipenprügelei, als er Barat beisteht und kurz davor ist, mit einem massiven Aschenbecher zuzuschlagen. Zum ganz und gar unpoetischen Realismus zählt auch ein komplett unerotischer Beischlaf, der eher wie eine Bestrafung wirkt. Typisch für Hennings Fähigkeit, mit wenigen Einstellungen ganze Geschichten zu erzählen, ist eine zufällige Begegnung. Dank Kurths Spiel kommt auch diese Szene quasi ohne Worte aus; ein Blick in Beckers Gesicht genügt, um zu erkennen, dass die hübsche junge Frau (Cosima Henman) seine Tochter ist. „Zwischen den Jahren“ ist ein intensives und herausragend gut gespieltes Drama; umso bedauerlicher, dass die ARD den Film um 0.35 Uhr versendet.

Ohne viele Worte und in langen Detaileinstellungen schildert Henning, wie sich die Täter-Opferkonstellation verschiebt. Er bezieht keine Position, wirbt nicht für Verständnis oder Sympathie und erzählt auf diese Weise eine Geschichte von Rache und Sühne, wie man sie nur selten im Kino sieht. (epd film)

Lars Henning landet einen Debüt-Volltreffer mit dieser exorbitanten Mischung aus Sozial- und Psychodrama und rasanten Thriller-Elementen, ein deutscher Film Noir über Schuld und Sühne, vergebliche Reue und vergessene Moral. Die meisten Szenen spielen in finsteren Winternächten mit Menschen, die sich im Schatten ducken. Becker ist auch ein Symbol für diejenigen, über die es in Brechts Dreigroschenoper heißt „die im Dunkeln sieht man nicht“. (AZ)

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Kinofilm

Arte, WDR

Mit Peter Kurth, Catrin Striebeck, Karl Markovics, Leonardo Nigro, Jonathan Neo Völk, Piet Fuchs, Cosima Henman

Kamera: Carol Burandt von Kameke

Szenenbild: Veronika Merlin

Kostüm: Susann Bollig, Sarah Raible

Schnitt: Jan von Rimscha

Musik: Jan Zert

Redaktion: Andrea Hanke (WDR), Georg Steinert (Arte)

Produktionsfirma: Radical Movies

Produktion: Michael Gebhart

Drehbuch: Lars Henning

Regie: Lars Henning

EA: 20.09.2018 23:30 Uhr | ARD

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