Zwei Seiten des Abgrunds

Ratte-Polle, Dreger, van Acken, Derfler, Saul. 6 Runden auf dem Täter-Opfer Karussell

Foto: RTL / Warner / Ennenbach
Foto Martina Kalweit

Ein gesellschaftlich rehabilitierter Täter trifft auf eine Mutter, die den Mord an ihrer Tochter nicht verwinden kann. Nach Aktenlage ein abgeschlossener Fall, in der Realität der Beginn einer tödlichen Verstrickung. „Zwei Seiten des Abgrunds“ (Warner Bros. ITVP / RTL+) von Anno Saul (Regie) nach dem komplexen Drehbuch von Kristin Derfler dekliniert Schuld und Mitschuld neu und fächert das Schwarz-Weiß-Bild von Täter und Opfer in verschiedene Graustufen auf. Sechs Folgen lang springt die Serie zwischen der Zeit des Verbrechens und der Wiederbegegnung dreier Menschen, die mit ihren seelischen Verletzungen ringen. Keine der Figuren lädt zur einfachen Identifikation ein, schroff und sperrig halten sie den Zuschauer auf Distanz. Visuell grau-blau ausgeleuchtet bietet der Thriller dabei sehenswerte Schauplätze und kehrt, dem Grundton treu, im anbrechenden Frühjahr in den Winter zurück. Das Finale im Eis hat Schwächen und stellt darüber hinaus eine zweite Runde in Aussicht.

Luise Berg (Anne Ratte-Polle) ist zurück im Streifendienst. Sie ist beschädigt, aber nicht untauglich für den Job. Vom ersten Auftritt an verraten Mimik und Körperspannung der Polizistin Unnachgiebigkeit in der Sache und Entschiedenheit in der Aktion. Mit dieser Mischung aus Beschädigung und eingeübter Routine verkörpert Anne Ratte-Polle einen vertrauten Typ des Genres. Da brodelt etwas, das sich Bahn brechen wird. Auslösendes Moment ist die Begegnung der inzwischen alleinlebenden Luise mit dem verurteilten Mörder ihrer zum Tatzeitpunkt 17jährigen Tochter Merle. Dennis (Anton Dreger) wurde nach sechs Jahren vorzeitig entlassen. Während Haft und Therapie hat sich das stumme, dicke Heimkind in einen attraktiven jungen Mann verwandelt. Die Begegnung mit Luise ist kein Zufall. Auch Dennis wurde fürs Leben beschädigt. Er hat Buße getan, aber er will nicht vergeben.

„Zwei Seiten des Abgrunds“ nimmt die Spur des durch Lügen und Schuld unheilvoll miteinander verstrickten Duos auf. In sechs Folgen springt die Serie immer wieder in die Zeit vor dem Verbrechen zurück. In der Gegenwart gerät Luise Berg zusehends aus der Spur, geraten ihre Kollegen und Vorgesetzte, ihr Ex- Mann und die bei ihm lebende jüngere Tochter Josi (Lea van Acken, „“Das Tagebuch der Anne Frank“, 2016) in einen Strudel aus Verdächtigungen und Misstrauen. Während Luise aufgrund eigenmächtiger Recherchen in einer Mordserie, für deren Taten sie Dennis verantwortlich macht, vom Dienst suspendiert wird, verschiebt sich die Konstellation. Mehr und mehr stehen jetzt Dennis und Josi im Zentrum. Auch wenn das Konstrukt wackelt (warum erkennt Josi in ihrer neuen Bekanntschaft Luca nicht den Dennis von einst?) erhöht das die Spannung. Schwelende Gefahr paart sich jetzt mit einer Beziehung, die immer in der Schwebe bleibt. Sind die Fronten zwischen Luise und Dennis unverrückbar, so begegnen sich mit Josi und Luca (alias Dennis) zwei Menschen, die sich zögernd aufeinander einlassen, dabei komplexere und ambivalentere Persönlichkeiten abbilden als das bei Racheengeln oder Endgegnern gemeinhin üblich ist.

Zwei Seiten des AbgrundsFoto: RTL / Warner
Vor sieben, acht Jahren: Merle (Josephine Thiesen) gibt Dennis (Anton Dreger) nicht nur Nachhilfe, sondern sie beleidigt und demütigt den adipösen Teenager zunehmend. Als er durch die Prüfung fällt, eskaliert die Situation: „Verpiss dich, du Missgeburt.“ An dem, was danach von Seiten Merles folgt, entzündet sich später der tragische Grundkonflikt der Serie. Das Ganze ist eine ziemlich wacklige Konstruktion. Gleiches gilt für die Umsetzung des Die-Schöne-und-das-Biest-Motivs. Gibt es zwei Biester?

Anne Ratte-Polle (Bayerischer Filmpreis als beste Darstellerin für „Es gilt das gesprochene Wort“, 2020) nimmt den Zuschauer nicht an die Hand. Als Luise Berg bleibt sie unzugänglich, immer auf Distanz. Momente der stillen Trauer gönnt sich diese Frau kaum. Nur in äußerster Not ringt sie sich zu einer Bitte durch. Dem Schritt auf andere zu folgen zwingend zwei Schritte zurück. Liebe und Sex sind ihr ein seltsames Spiel geworden. Nicht über sechs Folgen an ihrer Seite haften zu bleiben, ist eine richtige Entscheidung. Emotion & Identifikation überlässt Autorin Kristin Derfler („Brüder“, 2017) lieber der zweiten Hauptfigur. Als Dennis überzeugt Anton Dreger in seiner ersten TV-Hauptrolle. Dabei machen es ihm die Szenen mit dem Dennis der früheren Jahre nicht gerade leicht. Mit Fat-Suit und strähnigem Langhaar ausgestattet, ist ihm nur der Blick von unten nach oben erlaubt. So festgelegt wirkt die Figur gefangen und überfrachtet zugleich. In manchen Szenen schrammt der tumbe Riese nah an der Karikatur vorbei und schon bei der ersten Begegnung mit der ebenfalls etwas überzeichneten, schmolllippigen Merle springen im Kopf des Zuschauers alle Warnsignale auf Rot.

Etwas weniger dick aufgetragen, wäre das ungute Doppel von Loser und Schulschönheit sicher auch beim Zuschauer angekommen. Wie stark dagegen jener kurze Moment, in dem sich die Wandlung des inhaftierten Dennis andeutet. Nach dem gewaltsam herbeigeführten Tod eines Mithäftlings macht eine Liegestütze am Boden klar: Gerechtigkeit ist Dennis´ Motiv. Gerechtigkeit, die über blindwütige Rache hinausgeht. Der Schlüssel dazu liegt, von allen unbemerkt, bei Merles jüngerer Schwester Josi. Ihre Erinnerungen an das Geschehen rund um Merles Tod erzählen eine neue Geschichte. Damals zu jung, um die Wahrheit zu ertragen, ist auch sie in das unheilvolle Geschehen verstrickt. Variationen von Schuld, Übergriff und Misstrauen spiegelt „Zwei Seiten des Abgrunds“ konsequent bis in die Nebenfiguren. Dirk Martens misstraut als Luises Vorgesetzter ihrem Spürsinn, Moritz Führmann hat als Heimleiter gelernt, im richtigen Moment wegzusehen und Ann-Kathrin Kramer überrascht in der harten Rolle einer einsamen, unter Kontrollwahn leidenden Frau.

Zwei Seiten des AbgrundsFoto: RTL / Warner / Ennenbach
Josi (Lea van Acken), die heute 17jährige Schwester von Merle, Dennis‘ (Anton Dreger) erstem Opfer, kommt dieser coole Typ gerade recht. Das Verhältnis zu ihren getrennten Eltern und der neuen Patchwork-Familie ist momentan angespannt. Der Haken an der Geschichte: Damit Josi in Luca nicht Dennis erkennt, muss dieser bis an die Grenze einer Karikatur verfremdet werden. Auch Merle ist ein Zicken-Abziehbild.

Das Verfangensein in einer gekränkten Psyche, die Regeln des Polizistenjobs und familiäre Altlasten: Das Leben bremst die erwachsenen Protagonisten immer wieder aus. Dazwischen setzen Regisseur Anno Saul („Charité 2“, 2019, „Die Welt steht still“, 2021), Kameramann Martin L. Ludwig und Drohnen-Operator Maximilian Heiliger bei der Ausgestaltung des Schauplatzes Wuppertal durchaus auf Bewegung. Während drinnen das Interieur nie von den handelnden Personen ablenkt, erlaubt sich die Kamera draußen etwas mehr Spielerei. Das grau-blaue, winterliche Wuppertal liegt mal auf der Seite, im Vorspann dreht sich die Bildachse ein wenig und passend zu der sich erst fügenden Ordnung von oben und unten fährt die Schwebe-Bahn hier eben nicht am Boden, sondern auf der Fläche der oberen zwei Drittel durch die Totale und nimmt der Welt den Himmel. Die gerade Senkrechte gibt es nur vor dem Zellenfenster, ansonsten ragt der Stahl von Bahntrasse oder Industriebrache verlässlich schräg ins Bild. Saul inszeniert behutsam, schwindelig wird sicher keinem beim Zuschauen. Auch die Musik hält sich als akustische Unterstreichung über weite Strecken zurück. Wenn sich der Score dann auf der Spur der ungeklärten Mordserie zu Anna Netrebko und Mozarts Requiem hinreißen lässt, ist das nächste Opfer bestimmt nicht weit. Das volle Orchester ertönt als Kontrapunkt aber nur für ein paar Sekunden. Während das Gros der Handlung im winterlich-kalten Wuppertal spielt, liegen die Schauplätze für das davor und danach zwei Stunden Fahrtzeit in Richtung Westen auf einem belgischen Campingplatz und in den Weiten des Naturparks Hohes Venn. Die Weite ist dem Finale als visuellem Pendant zu den offenen Dialogen zwischen Josi und Dennis vorbehalten.

Wäre es kein Thriller, könnte man die Weite übernehmen lassen. Aber es kommt anders. Die Landschaft ohne Stadt, Stahl und Schrott wird zur eisigen Falle und der Steg durch das Hohe Moor führt Spurensucher ins Verderben. Leider verliert „Zwei Seiten des Abgrunds“ auf den letzten Metern an Stringenz. Ein nicht nachvollziehbarer, weil aussichtsloser Fluchtversuch, ein Monolog mit Schwächen und eine Waffe zu viel sorgen für ein leicht hingebogenes Finale. Ohne zu verraten, wer dem Abgrund entkommt: Letzte stumme Bilder skizzieren den Ausgangspunkt für eine mögliche Staffel zwei.

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Mit Anne Ratte-Polle, Anton Dreger, Lea van Acken, Dirk Martens, Ann-Kathrin Kramer, Senita Huskic, Renato Schuch, Claudia Eisinger, Josephine Thiesen, Moritz Führmann

Kamera: Martin L. Ludwig

Szenenbild: Cora Pratz

Kostüm: Minsum Kim, Sarah Raible

Maske: Barbara Zschetzsche

Schnitt: Dirk Grau

Musik: Annette Focks

Redaktion: Anke Greifeneder (Warner TV), Hauke Bartel (RTL-Fiction)

Produktionsfirma: Warner Bros. ITVP Deutschland

Produktion: Roxana Richters

Drehbuch: Kristin Derfler

Regie: Anno Saul

EA: 08.05.2023 10:00 Uhr | RTL+

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