Wilsberg – Alles Lüge

Lansink, Korittke, Klink, Neuwöhner/Geb, Thurn. Mord macht keine Mittagspause

Foto: ZDF / Thomas Kost
Foto Tilmann P. Gangloff

Wieder mal befasst sich die ZDF-Reihe „Wilsberg“ (Warner Bros.) kritisch mit der Digitalisierung. In „Alles Lüge“ geht es um Hass, Hetze und Verschwörungstheorien im Internet. Genüsslich zitiert das Drehbuch jeden Unfug, der im Netz verbreitet wird, von den „Chemtrails“ bis zur Klimalüge. Das hätte leicht zu einem Proseminar über den kleinen Internetführerschein ausarten können, ist aber geschickt mit einer Krimistory verknüpft, in deren Verlauf einige Mitglieder des Ensembles selbst ins Visier der Hassschreiber geraten. Das Zentrum der Geschichte ist ein alternatives Nachrichtenportal, das im Gegensatz zu den vermeintlichen „Staatsmedien“ angeblich die Wahrheit verbreitet; tatsächlich jedoch verschwindet die Wahrheit auf dieser Website wie in einem Schwarzen Loch.

Es ist aller Ehren wert, dass sich eine Reihe wie „Wilsberg“ regelmäßig mit Phänomenen der Digitalisierung befasst; immerhin ist Titelheld Georg Wilsberg (Leonard Lansink) mit Mitte sechzig alles andere als ein Eingeborener des digitalen Zeitalters, außerdem hat er eine gewisse Abneigung gegen technologische Innovationen aller Art. Trotzdem gelingt es den Autoren immer wieder, den Antiquar und Privatdetektiv aus Münster glaubhaft mit entsprechenden Themen zu konfrontieren. Der Titel „Die fünfte Gewalt“ (2017) bezog sich auf die als Ergänzung zum klassischen Journalismus etablierte Publizistik im Internet, in „Prognose Mord“ (2018) ging es um ein Computerprogramm, mit dem sich Ort und Zeit von Straftaten vorhersagen lassen, in „In Gesicht geschrieben“ (2019) um eine App, die dank Gesichtserkennung im Nu alles zusammenträgt, was sich an digital verfügbaren Informationen über eine Person finden lässt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es auch mal um Hass, Hetze und Verschwörungstheorien gehen würde. Wie stets sorgt das Buch (Sönke Lars Neuwöhner & Natalia Geb) dafür, dass ein Mitglied der „Wilsberg“-Familie betroffen ist. Diesmal erwischt es Ekki (Oliver Korittke). „Alles Lüge“, der 69. Film der Reihe, beginnt mit einem harmlosen Marktbummel, als der Finanzbeamte plötzlich von einem Mann angegriffen wird: Kfz-Meister Hartung (Johannes Zeiler) wirft ihm vor, er habe ihn in die Insolvenz getrieben. Es kommt zu Handgreiflichkeiten, die kurz drauf im Netz landen. Allerdings zeigen die Aufnahmen nur die halbe Wahrheit; nun sieht es so aus, als habe Ekki mit der Pöbelei begonnen.

Wilsberg – Alles LügeFoto: ZDF / Thomas Kost
Wilsberg (Leonard Lansink) schlägt vor, dass Alex (Ina Paule Klink) bei „Beiderbeke News“ für Recherchezwecke anheuert. Für Ekki (Oliver Korittke) eine Schnapsidee.

Der Auftakt ist clever, denn was zunächst bloß wie ein Vorwand wirkt, um ins Thema einzuführen, wird gegen Ende noch eine wichtige Rolle spielen. Bei dem Handgemenge ist ein Unbeteiligter verletzt worden. Ekki und Wilsberg bringen den Mann zur Ärztin seines Vertrauens. Eine Mitarbeiterin bittet den Detektiv um Hilfe: Britta Lüders (Brigitte Zeh) kümmert sich kostenlos um Menschen ohne Krankenversicherung, aber seit einigen Wochen ist sie Zielscheibe einer Netz- und Hetzkampagne („Mutter Teresa oder Dr. Frankenstein“?). Ihr wird vorgeworfen, sie missbrauche ihre mittellosen Patienten, um neue Medikamente zu testen, und kassiere dafür viel Geld von der Pharmaindustrie. Wilsberg will den Autor der Verleumdungen zur Rede stellen, findet jedoch nur noch dessen Leiche. Die Website, für die der Journalist geschrieben hat, heißt „Beiderbeke News“ und rühmt sich, im Gegensatz zu den vermeintlichen „Staatsmedien“ die Wahrheit zu verbreiten; tatsächlich verschwindet die Wahrheit hier wie in einem Schwarzen Loch.

Als Vorbild für das Portal und seinen Namensgeber diente in Ermangelung entsprechender deutscher Persönlichkeiten die rechtsextreme amerikanische Seite „Breitbart News“ und ihr prominentester Vertreter, der ehemalige Trump-Berater Steve Bannon. Andreas Pietschmann darf in dieser Rolle alle „Fake News“-Register ziehen und klingt prompt wie ein AfD-Politiker, wenn er davon schwadroniert, seine Website widersetze sich der „Wahrheit der Eliten“. Eine Redakteurin (Amelie Plaas-Link) verrät, wie die Masche funktioniert: Beiderbekes Teammitglieder stellen Lügen ins Netz und schreiben anschließend als „Trolle“ unter verschiedenen Pseudonymen hasserfüllte Kommentare. Daraufhin entwickeln die Verleumdungen eine fatale Eigendynamik, der sich selbst die eifersüchtige Kommissarin Springer (Rita Russek) nicht entziehen kann: Weil Wilsberg recht angetan von der Ärztin ist, verpasst sie der Frau im Schutz der Anonymität einen weiteren Tiefschlag. Für die im Grunde nicht minder düstere, in der Umsetzung aber heitere Seite des Themas ist Overbeck (Roland Jankowsky) zuständig: Der Polizist, der sich stets im Schatten seiner Chefin wähnt, wird vorübergehend zum Internet-Star, weil er auf Videos als „Ovinator“ den harten Kerl mimt, der den Dreck beseitigt („Mord macht keine Mittagspause“), und darüber sinniert, was aus diesem Land geworden ist. Das verschafft ihm sogar einen Auftritt in der „heute-show“. Die Mitwirkung des gebürtigen Bielefelders Oliver Welke war im Grunde überfällig, schließlich gehört die regelmäßige Erwähnung von Bielefeld zum Standardrepertoire der Reihe.

Wilsberg – Alles LügeFoto: ZDF / Thomas Kost
„Mutter Teresa oder Dr. Frankenstein“? Lüders (Brigitte Zeh) kümmert sich kostenlos um Menschen ohne Krankenversicherung. Das Netz dankt es ihr nicht. Leonard Lansink, Wolfgang Maria Bauer

Den Sonntagskrimis im „Ersten“ tut es oft nicht gut, wenn sich die Autoren relevanter Themen annehmen, weil vor lauter Botschaft mitunter der Krimi auf der Strecke bleibt. Diesen Fehler haben Sönke Lars Neuwöhner und Natalia Geb vermieden, zumal „Beiderbeke News“ eine zentrale Rolle bei den Ermittlungen spielt. Auf diese Weise ließen sich einige der gängigen Verschwörungstheorien unterbringen, von der gefälschten Mondlandung über angeblich unfruchtbar machende Kondensstreifen („Chemtrails“) bis zur Lüge des Klimawandels. Auf andere wie etwa die ekelhafte QAnon-Theorie oder die jüdische Weltverschwörung ist allerdings verzichtet worden, und Corona war während der Dreharbeiten noch weit weg. Natürlich sind Wilsberg, Ekki und Alex (Ina Paule Klink), die sich raffiniert das Vertrauen von Beiderbeke erschleicht, angemessen empört über den Dreck, den die Seite im Netz verbreitet, aber vermutlich hat es Neuwöhner/Geb großen Spaß gemacht, diesen ganzen Unfug, der auch vor Wilsberg nicht Halt macht („Echsenmensch im Antiquariat“), ins Drehbuch einzubauen.

Soundtrack: Stretch („Why Did You Do It?”, Vorspannlied), Roxy Music („Virginia Plain“), Pixies („Here Comes Your Man”, Abspannlied)

Regie führte Hansjörg Thurn, der bei ProSiebenSat.1 für diverse „Event“-Projekte verantwortlich war („Die Schatzinsel“, „Die Wanderhure“); „Alles Lüge“ ist nach „Mord und Beton“ (2016) sowie „Die fünfte Gewalt“ seine dritte sehenswerte Arbeit für die Reihe. Die Bildgestaltung (hier: Uwe Schäfer) ist in seinen Filmen ohnehin stets von großer Sorgfalt. Bei den Innenaufnahmen liegt diesmal oft ein feiner Dunst in der Luft, der dem Licht eine ganz besondere Wirkung gibt. Gelungen ist auch Präsentation der Internetlektüre: Wenn Wilsberg oder Springer auf Beiderbekes Website stöbern, schweben die Schlagzeilen und Kommentare durch die Luft oder werden an die Wand projiziert; auf diese Weise kann Thurn darauf verzichten, dass seine Schauspieler vorlesen müssen, was die Zuschauer ohnehin mit eigenen Augen sehen. Den Menschen, die den ganzen Humbug für bare Münze nehmen, ist Overbecks Wort zum Sonntag gewidmet, denn der geläuterte Cop nutzt seinen TV-Auftritt, um ihnen ins Gewissen zu reden: „Wann fangen wir endlich wieder an, selber zu denken?“ Möge es nützen.

Wilsberg – Alles LügeFoto: ZDF / Thomas Kost
Beiderbeke (Andreas Pietschmann) findet Alex (Ina Paule Klink) nicht nur als Anwältin interessant. Diese hat aber andere Absichten als Beiderbeke sich wünscht.

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Reihe

ZDF

Mit Leonard Lansink, Oliver Korittke, Ina Paule Klink, Roland Jankowsky, Andreas Pietschmann, Brigitte Zeh, Rita Russek, Wolfgang Maria Bauer, Amelie Plaas-Link, Johannes Zeiler, Martin Horn. Als Gast: Oliver Welke

Kamera: Uwe Schäfer

Szenenbild: Oliver Mugalu

Kostüm: Sonia Bouabsa

Schnitt: Ollie Lanvermann

Musik: Ingo Ludwig Frenzel

Redaktion: Martin R. Neumann, Florian Weber

Produktionsfirma: Warner Bros. ITVP Deutschland

Produktion: Anton Moho

Drehbuch: Sönke Lars Neuwöhner, Natalia Geb

Regie: Hansjörg Thurn

Quote: 7,55 Mio. Zuschauer (22,4% MA)

EA: 28.11.2020 20:15 Uhr | ZDF

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