Zwei Siebzehnjährige, ein Pole, ein Deutscher, der Krieg, zwei Träume
Ein junger Mann und eine junge Frau spazieren im Licht eines milden Sommerabends durch die Felder. Sie lächeln sich an, necken sich ein bisschen, dann verliert er sie im mannshohen Schilf aus den Augen. Davon träumt Romek (Filip Piotrowicz). Mit warmen, romantischen Bildern beginnt die polnisch-deutsche Koproduktion „Unser letzter Sommer“. Auch Guido (Jonas Nay) hat – später, nach etwa 30 Filmminuten – einen Traum: Er geht in Uniform und mit Gewehr in der Hand durch eine weite, neblige Gras-Landschaft, die bedeckt ist von Spinnweben. Er wirkt verloren in einer einsamen, kalten Umgebung. Zwei 17 Jahre alte Jungs, ein Pole und ein Deutscher, auf dem Weg ins Erwachsensein, mitten im Krieg, denn dieses historische Drama spielt im Jahr 1943 im Südosten Polens, wie eine Tafel zu Beginn nüchtern verkündet. In einer Zeit also, in der Polen von Nazideutschland besetzt ist. Und an einem Ort, der von den Vernichtungslagern nicht weit entfernt ist.
Alle bedienen sich an den Hinterlassenschaften der deportierten Juden
Die Shoah ist auch ohne Lager-Bilder von Anfang an präsent: Entlang der Bahngleise liegen Kleider und Koffer der deportierten Juden. Jochen Senf, einst „Tatort“-Kommissar Palu, spielt hier eine kleine Rolle als Deutscher, der mit den Hinterlassenschaften der Opfer Handel treibt. Alle bedienen sich, auch die polnische Bevölkerung, die irgendwie die Kriegszeiten überstehen will. Romeks Mutter (Kinga Preis) ist hocherfreut, als ihr Junge einen Koffer (Aufschrift: E. Rosenblat, Berlin) mitbringt, den er den deutschen Soldaten vor der Nase weggeschnappt hat. „Vielleicht wendet sich unser Schicksal doch noch zum Guten“, hofft sie und ist enttäuscht, weil sich im Inneren ein Fotoalbum, ein Grammophon und eine Plattensammlung befinden. Der polnische Filmemacher Michal Rogalski zeichnet dank verschiedener Charaktere ein differenziertes Bild von seinem Heimatland im Krieg. Es gibt den armen Bauern, der Juden versteckt. Es gibt Leon (Bartlomiej Topa), den Freund von Romeks Mutter, der stiehlt und nur aufs eigene Wohl bedacht ist. Es gibt die Jüdin Bunia (Maria Semotiuk), die auf der Flucht ist und Romek über den Weg läuft. Und es gibt den antisemitischen Kollegen, der meint, die Polen würden Hitler ein Denkmal setzen, weil „er uns endlich von den Juden befreit hat“.
Der ruhige Dienst in der Etappe endet mit dem neuen Kommandanten
Ganz ohne ein Stereotyp scheint es aber doch nicht zu gehen: Die russischen Partisanen sind ausschließlich verschlagen und brutal. Allerdings spielt die Partisanen-Gruppe auch nur eine vorübergehende, kleine Rolle. Ganz anders die deutschen Besatzer: Das entspannte Dutzend der „Gendarmerieabteilung 1“ wirkt in dem etwas herunter gekommenen Anwesen wie ein vom Krieg vergessenes Häuflein. Die Soldaten schieben in der Etappe unter der Führung ihres Feldwebels (André Hennicke) einen ruhigen Dienst und freuen sich auf den Heimaturlaub. Es ist eine trügerische Ruhe, denn mit dem neuen Kommandanten (Steffen Scheumann als furchterregend kalter Nazi) kehren militärischer Drill und Nazi-Terror zurück. Die Gewalt wird hier zwar ausschließlich von oben befohlen oder geht vom Kommandanten gleich selbst aus, so dass die scheinbar „unpolitischen“ Soldaten eher wie dessen Opfer denn als Mit-Täter wirken. Aber Schuld und Schrecken werden wahrhaftig nicht ausgeblendet.
Von Normalität und dem Leben entlang der Eisenbahnschienen
„Unser letzter Sommer“ bietet einen ungewöhnlichen Zugang zum Thema Zweiter Weltkrieg und Nazizeit: Es geht um das Leben hinter den Fronten und abseits der bekannten Schauplätze, um die Sehnsucht der Menschen nach Normalität, auch um die stets lauernde Gefahr. Rogalskis ruhige Inszenierung wartet mit einer kinoreifen Bildsprache auf, die Landschaft und Natur intensiv miteinbezieht. Die Figuren sind stark mit der Umgebung „verwachsen“, Romek auf der Lokomotive und bei seinen Streifzügen durch die Wälder, Guido und sein Kamerad Odi (Gerdy Zint) auf Patrouille. Rogalski erzählt von einem Leben entlang der Eisenbahnschienen, von Armut und Gewalt, aber auch von der ersten Liebe und erstem Sex sowie von Idylle und landschaftlicher Schönheit. Dazu werden immer mal herrliche Natur-Aufnahmen eingeflochten. Er hat seinem Film den Satz vorangestellt: „Für meine Großmutter, die mir alles erzählte.“ „Ich erinnere mich noch daran,“, ergänzt Rogalski im Pressetext, „dass meine Großmutter immer gerne Geschichten von damals erzählt hat. So paradox es klingt, es war vermutlich die beste Zeit ihres Lebens – und zwar nicht, weil bestimmte Dinge in der Welt passierten, sondern weil sie jung war.“ Nach Ansicht des Autors werde die Zeit des Zweiten Weltkriegs „oberflächlich und stereotyp“ betrachtet. „Die Erinnerung an die Grausamkeiten dieser Zeit verschleiert, dass die Menschen damals auch versuchten, so normal wie möglich durch den Krieg zu kommen“, sagt er. Das ist nun keine besonders neue oder aufregende Erkenntnis, aber in seinem Film geht Rogalski glücklicher Weise darüber hinaus, denn er erzählt, wie der Krieg jeden und jede erfasst und dass es eben kein Entkommen und letztlich keine Normalität gibt.
Das flüchtige Glück kann jederzeit umschlagen in Gewalt
Romek und Guido eint die Liebe zur Musik und das Interesse an Franka (Urszula Bogucka), einem hübschen Bauernmädchen, das bei der deutschen Gendarmerie Küchendienst versieht. Guido ist schon mit 17 eingezogen worden, weil er Jazz gehört hat. „Also doch ein Asozialer“, bemerkt der Kommandant, der den Jungen schnell auf dem Kieker hat. Den Dienst am Vaterland versieht Guido, der in seinem Zimmer heimlich Radio hört, ausgesprochen gleichgültig. Als er Romek mit dem Koffer erwischt, schickt er ihn weg, statt ihn festzunehmen – oder gar zu schießen. Wie Guido will auch Romek sein Leben leben, nicht nur Leons Heizer sein, sondern selbst die Lokomotive führen. Immer wieder kreuzen sich die Wege der beiden jungen Männer, die sich in anderen Zeiten vielleicht angefreundet hätten. An einem Abend klettert Guido, angelockt von der Musik, die Romek auf dem Grammophon der Familie Rosenblat abspielt, in dessen Zimmer und zeigt Franka, wie man zu Swing tanzt. Das Leben unbeschwert genießen, das wollen diese Teenager, egal ob Polen oder Deutsche, aber es ist nur ein flüchtiges Glück möglich, das jederzeit umschlagen kann in Feindseligkeit, Menschenjagd, Brutalität. Dieser stete Wechsel aus Idylle und Schrecken schafft die besondere, beunruhigende Atmosphäre des Films, der am Ende die große Tragödie nicht scheut, aber nicht nur deshalb ein Anti-Kriegs-Film genannt werden darf.
Ein Debütfilm ohne nennenswerte Kino-Auswertung in Deutschand
„Unser letzter Sommer“ überzeugt außerdem durch den konsequenten Umgang mit der Sprache. Die polnischen Schauspieler werden nicht synchronisiert, sondern untertitelt. Alles andere wäre auch absurd, weil sich die Herrschaftsverhältnisse in der Sprache und im Sprechen spiegeln. Möglicher Weise war die fehlende Synchronisation jedoch einer der Gründe, die eine nennenswerte Kino-Auswertung in Deutschland verhindert haben. Dabei stieß das Langfilm-Debüt Rogalskis, der zuvor in Polen vor allem an Fernsehserien gearbeitet hatte, auf eine überwiegend positive Kritik. Der Film sei „ein Spiel mit Ebenen, die einander, auf den ersten Blick, eigentlich ausschließen müssten. Sie existieren aber dennoch. Und das ist ein lebensnahes Paradox“, lobte Carolin Weidner in der taz. Auch Jan Schulz-Olaja vom Berliner Tagesspiegel war angetan: „So könnte es gewesen sein: Jugend, damals, trotz allem. Rogalski führt seine zart kriegsuntauglichen Figuren behutsam zusammen, immer dicht an der Kante zum nächstbesten Tod. Und allesamt entfernen sie sich auf ihre Weise von der Front eindeutiger Zugehörigkeiten.“ Und Alexandra Seitz notierte bei epd film: „Man glaubt zu wissen, was kommt, und das kommt dann auch. Und doch hat man das so noch nicht gesehen: den Verlust der Unschuld, das Ende der Hoffnung, auch: die Zurichtung zur Grausamkeit, die Vernichtung von Lebensfreude.“ Auf wenig Zustimmung stieß der Film dagegen bei Philipp Stadelmaier von der Süddeutschen Zeitung: „Michal Rogalski verkitscht den Sommer 1943 in Ostpolen in nostalgischen Bildern“, schrieb der Kritiker, der außerdem „ans Schultheater erinnernde Darsteller in den Kostümen von gestern“ gesehen hatte. Die Platzierung in der Filmdebüt-Reihe im Ersten bietet nun dem Fernsehpublikum die Chance, sich von der im Rahmen der „Leuchtstoff-Initiative“ von rbb und Medienboard Berlin-Brandenburg entstandenen Produktion ein eigenes Bild zu machen. (Text-Stand: 20.5.2017)