Tatort: Wir – Ihr – Sie

Meret Becker, Mark Waschke, Dagmar Gabler, Torsten C. Fischer. Schwer zu fassen

Foto: RBB / Frédéric Batier
Foto Rainer Tittelbach

Der „Tatort: Wir – Ihr – Sie“, der dritte Film mit dem neuen Berlin-Duo Meret Becker und Mark Waschke, nimmt sich den Großstadtalltag vor und das Leben in der neuen schönen Medienwelt, hinter dessen „sozialen“ Netzwerken sich in Wirklichkeit die hässliche Fratze der Gleichgültigkeit versteckt. Kids, die nichts berührt, Eltern, die nichts raffen, ein nachtaktiver Kommissar, der in eigener Sache unterwegs ist, eine Kommissarin, die die Wunden ihrer Lust leckt. Auch ästhetisch spiegelt sich der Zeitgeist in dem atmosphärischen Großstadt-Film von Torsten C. Fischer nach Dagmar Gablers sozialkritischem Drehbuch. Mit den rabiaten, schwer fassbaren Charakteren ergibt das eine wilde, raue und aufregende Mischung!

Eine überfahrene Frau, drei Girlies & zwei Ermittler, die an ihre Grenzen stoßen
Eine Frau wird von einem Jeep erfasst und gegen ein anderes Fahrzeug geschleudert, bevor sie – offenbar absichtlich – überfahren wird. Tatort ist das Parkhaus eines Shopping-Centers. Die Tat selbst wurde von den Überwachungskameras nicht erfasst. Die Halterin des Jeeps, die Kneipenwirtin Birgit Hahne (Valerie Koch), war mit der Toten einst eng befreundet; heute ist sie nur noch die Drogenlieferantin von deren Ehemann (Steffen Münster). Dass die beiden auch Sex miteinander hatten, könnte ein Mordmotiv sein. Doch der Fokus von Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) richtet sich bald auf drei Mädchen, die sich zur Tatzeit auch im Parkhaus aufgehalten haben und sich in Widersprüche verwickeln: die 15jährige „höhere Tochter“ Louisa (Cosima Henman), die 16jährige „Mitläuferin“ Charlotte (Valeria Eisenbart) und die erst 14jährige Paula (Emma Drogunova), die für alles und jeden einen frechen Spruch parat hält. Saß eine der drei vielleicht hinter dem Steuer? Doch wie erklärt sich die Brutalität der Tat? Die Kommissare beißen sich die Zähne an den Mädchen aus. Und dann ist ein Vater der drei (Thomas Heinze) ausgerechnet auch noch Anwalt.

Tatort: Wir – Ihr – SieFoto: RBB / Frédéric Batier
Birgit Hahne (Valerie Koch), die Frau aus dem Kiez, lässt Rubin (Becker) auflaufen. Dafür ziehen sie und Karow wieder am selben Strang; sie ist von seiner Unschuld überzeugt.

Die Angleichung der Kommissare ans urbane Milieu & die Methoden der Täter
Der dritte Fall des neuen Berliner „Tatort“-Teams nimmt sich den Großstadtalltag vor, das, was sich zwischen den Menschen abspielt, das Leben in der neuen schönen Medienwelt, hinter dessen „sozialen“ Netzwerken sich in Wirklichkeit die hässliche Fratze der Gleichgültigkeit versteckt. „Die Stadt wird dichter, krasser, offensives Verhalten im Verkehr nimmt zu, auf den Straßen, in U- und S-Bahnen“ – diesen Eindruck jedenfalls hat Drehbuchautorin Dagmar Gabler. „Ich beobachte mehr Gleichgültigkeit, mehr gestresstes Verhalten bis hin zu Aggression, Enthemmung, Verrohung.“ Kommunikation, das ist in „Wir – Ihr – Sie“ vor allem ein Verhalten, das den Charakter des Süchtigen, des Obsessiven besitzt. Ein Girlie ohne Handy ist wie ein Junkie auf Entzug. Und auch die Kommissare haben nicht nur Vorbildfunktion. Wie in deren Privatleben, das nach wie vor eine Großbaustelle ist, so unberechenbar bleiben sie auch im Job: Karow, der nach der Verhaftung am Ende von „Ätzend“ wieder auf freiem Fuß ist und den Drahtzieher der Intrige gegen sich unbedingt überführen will, hantiert mit K.O.-Tropfen, langt brutal hin und hält bald sogar einen Mann in seiner Gewalt, während der zweifachen Mutter, Nina Rubin, bei einem der Girlies kräftig die Hand ausrutscht. In beiden Charakteren spiegelt sich das urbane Milieu. Als „Jäger“ müssen sie den Großstadtdschungel beherrschen, und sie müssen wissen, wie die „Täter“ ticken.

Tatort: Wir – Ihr – SieFoto: RBB / Frédéric Batier
Robert Karow (Mark Waschke), der seiner Kollegin das Du anbietet, bleibt privat nach wie vor ein Mensch, der schwer zu greifen ist. So lauert er beispielsweise der Frau (Ursina Lardi) seines ermordeten Kollegen auf, mit der er einst ein Verhältnis hatte.

Ein „Tatort“, der den Zeitgeist spiegelt – auch dramaturgisch, auch ästhetisch
Kids, die nichts berührt, Eltern, die nichts raffen, ein nachtaktiver Kommissar, der in eigener Sache unterwegs ist, eine Kommissarin, die die Wunden ihrer Lust leckt. „Wir – Ihr – Sie“ ist ein „Tatort“, der den Zeitgeist spiegelt. Auch dramaturgisch, auch ästhetisch. Die horizontal erzählte Geschichte um Karows Vergangenheit als Beamter des Drogendezernats setzt sich fort, allerdings nicht mehr ganz so ausführlich und packend wie in den ersten beiden Episoden (was Quereinsteigern und Zuschauern, die sich nicht mehr erinnern können, die Rezeption erleichtert). Der undurchsichtige Bulle wird rehabilitiert, doch dieser Typ, der auch Männern gegenüber sexuell nicht abgeneigt ist, bleibt schwer zu fassen. Karows Methoden sind rabiat, sein Verhalten ist cool bis arrogant, Logik und Schnelligkeit sind seine Waffen, systemisches Denken ist seine Stärke. „Karow ist nichts Fixes“, so Mark Waschke. „Menschen sind nicht schwarzweiß, sie haben Facetten“, bringt es Meret Becker auf den Punkt. Für die Konzeption und die Dramaturgie des Berliner „Tatort“-Ablegers bedeutet das: Diese beiden Figuren sind bestens gewappnet für die Vielfältigkeit der Hauptstadt und ihrer möglichen Geschichten.

Keine Spur vom klassisch „Schönen“: dieser Film ist rau, wild, unharmonisch
Der Hang zur Selbstzerstörung schimmert auch im dritten Film durch die ästhetisch reizvolle Oberfläche (auch wenn es die drei Mädchen beispielsweise „Party machen“ nennen). Die Nacht wird zum Tag gemacht. Die Großstadt leuchtet. Berlin zeigt herbstliche Gefühle. Die Kommissare streifen durch den Kiez. Viele sind krass genervt – und alle ein bisschen neben der Spur. Da wird Sprache zur Waffe: „So toll war deine Mutter wohl nicht, wenn dein Vater ’ne andere fickt“, knallt eines der Mädchen dem Sohn der überfahrenen Frau an den Kopf. „Ich bin nicht mehr erreichbar“, ätzt sie wenig später in Richtung der Kommissare und boykottiert das Verhör. Wie seine Charaktere ist dieser „Tatort“ angenehm rüde, wild, unharmonisch. Mit allem muss gerechnet werden. Das ergibt viele Handlungssplitter und gibt der Montage eine ganz eigene Note. Das ist aufregend. Wer allerdings das Konventionelle bevorzugt, wer die glatte Aufgeräumtheit eines Whodunits oder das klassisch „Schöne“ sucht, für den freilich dürfte „Wir – Ihr – Sie“ eine Herauforderung sein. (Text-Stand: 15.5.2016)

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rbb

Mit Meret Becker, Mark Waschke, Valerie Koch, Cosima Henman, Valeria Eisenbart, Emma Drogunova, Thomas Heinze, Steffen Münster, Béla Gabor Lenz, Carolyn Genzkow, Tim Kalkhof, Aleksandar Tesla

Kamera: Konstantin Kröning

Szenenbild: Frank Polosek

Kostüm: Anne-Gret Oehme

Schnitt: Antje Zynga

Soundtrack: Kylie Minogue („Slow“), Libertines („Gunga Din“), Nick Cave & The Bad Seeds („15 Feet of Pure White Snow“), The Sound („I Give You Pain“)

Produktionsfirma: Ziegler Film

Produktion: Tanja Ziegler

Drehbuch: Dagmar Gabler

Regie: Torsten C. Fischer

Quote: 8,10 Mio. Zuschauer (25% MA)

EA: 05.06.2016 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach