Zwischen kafkaeskem Kommissariat und Vorstadt-Hölle
Eine aufgebrachte Krimi-Schriftstellerin (Froboess) stürmt ins Frankfurter Kommissariat: „Herr Abendroth ist ermordet worden. Er hat ihn auf dem Teppich erstochen und eingerollt.“ Dieser „Er“ sei einer ihrer Nachbarn, Nils Engels (Jan Krauter), „ein wirklich böser Mensch“. Weil sie gerade nichts Besseres zu tun haben – Brix legt eine Musikkassette ein (R.E.M.), Janneke sortiert Ordner ins Regal, Riefenstahl klaut die Glühbirne aus Brix‘ Tischlampe –, gehen die Ermittler dem Vorwurf nach. Die kafkaeske Szenerie im Kommissariat, wo Paul Brix (Wolfram Koch) und Anna Janneke (Margarita Broich) in einem Turnhallen-großen Büro allein herumsitzen, findet ihre Entsprechung in einer Vorstadt-Hölle: Am Wendehammer der kleinen Straße mit ihren schmucken Einfamilienhäusern eskaliert gerade ein Kleinkrieg zwischen den Nachbarn, auch wenn sich Herr Abendroth bald als sehr lebendig herausstellen wird. Aber keine Sorge, auch dieser „Tatort“ bekommt später noch seine Leiche.
Der „Tatort“, die Supernerds und das Thema Überwachung
Die Typen, die im Wendehammer wohnen, könnten einem Film von Jean-Pierre Jeunet entsprungen sein – wobei man sich eher an die schaurige Welt in „Delicatessen“ als an „Die fabelhafte Welt der Amélie“ erinnert fühlt. Vorneweg Nils Engels, der tatsächlich böse zu sein scheint. Jedenfalls tritt er in der Anfangsszene die Schildkröte des Nachbarjungen tot. Der seltsame Mann hat sich am Ende der Straße in einer Festung verbarrikadiert, hinter einer hohen Mauer mit Elektrozaun und Überwachungskameras. Drinnen sitzt er vor elf Monitoren, und wer bei ihm klingelt, wird per Gesichtserkennung in Sekundenbruchteilen identifiziert. Bevor Brix und Janneke das Gelände betreten, hat Engels bereits die Personalbögen der Kommissare studiert. Der „Tatort“ hat in diesem Jahr besonderen Gefallen gefunden an solchen Supernerds. Wie jüngst in Stuttgart und Bremen gibt es auch hier ein Software-Wesen mit eigenem Namen, doch „Cassie“ ist kein Avatar, der ein bedrohliches Eigenleben entwickelt, sondern tatsächlich nur die Stimme ihres Herrn. Statt um Künstliche Intelligenz geht es um weltweite Vernetzung, um die Macht von IT-Konzernen, um die Abhängigkeit von Algorithmen, um Verheißung und Gefahr der digitalen Technologie. Allerdings auch um die Gefahr durch Laubbläser in Nachbar-Hand.
Die animalischen Nebendarsteller passen in die bizarre Szenerie
Das Thema Überwachung wird hier mit einer gehörigen Portion Humor und Selbstironie präsentiert. Nils Engels, der (sch)mächtige Große Bruder, dessen Algorithmus in ganz Frankfurt einen Stromausfall auslöst, wenn sich sein Schöpfer zu lange aus dem eigenen System ausloggt, fühlt sich selbst verfolgt, sowohl digital als auch analog. Einerseits von „Massive Data“, einer Firma aus dem Silicon Valley. Andererseits von Tieren aller Art. Die Polizei findet zwar in Engels‘ Tiefkühltruhe keinen toten Herrn Abendroth, dafür jede Menge Katzen und Hunde aus der Nachbarschaft. Die Inszenierung findet auch sonst Gefallen an animalischen Nebendarstellern, die gut in die bizarre Szenerie passen: Zum Beispiel die unfreundlichen Möpse von Opern-Diva Olga (Susanne Schäfer), die wie einst Oskar Matzerath in der „Blechtrommel“ so hoch singen kann, dass Glas zerspringt. Mit Wagners „Götterdämmerung“ gibt es noch eine musikalische Anspielung oben drauf, die Brix später mit einer Tirade auf den „Internet-Gott“ abrundet. Die Eule auf der Straße fügt dem High-Tech-Krimi eine Prise „Harry Potter“-Flair bei. Und als plötzlich Tauben wild durchs Kommissariat flattern, haben die Autoren auch noch ihr Hitchcock-Zitat untergebracht.
Ironie muss sein: Fantasievoller Look und jede Menge Kino-Zitate
Der vierte Film mit den Frankfurter Ermittlern ist wieder eine außergewöhnliche „Tatort“-Folge. Allerdings weniger wegen seiner Geschichte. Die Krimi-Handlung, in der noch eine Schwester von Nils Engels und sein cooler Compagnon (die Sound-Anlage!) eine Rolle spielen und in der sich die biedere Nachbarschaft als nicht ganz so harmlos herausstellt, dürfte nicht allzu lange in Erinnerung bleiben. Im Gegensatz zu den ausgefallenen Figuren und Szenen, die sich die Drehbuch-Autoren Stephan Brüggenthies und Andrea Heller haben einfallen lassen. Herausragend in dieser originellen Inszenierung von Markus Imboden ist auch die Kamera von Martin Langer, die nicht immer „neutral“ bleibt, sondern schon mal die Perspektiven der Protagonisten einnimmt. Nicht nur die von Kontroll-Freak Nils Engels, der natürlich eine bionische Kontaktlinse trägt, sondern auch die von der bedauernswerten Schildkröte zum Beispiel. Der fantasievolle Look schlägt den Inhalt und passt zum ironischen Umgang mit dem Verschwörungs-Thema. In „Wendehammer“ warnt kein erhobener Zeigefinger vor allumfassender Überwachung, vielmehr wird das große Thema in der kleinen Vorstadt-Welt gespiegelt. Dort, wo man sich ebenfalls misstrauisch beäugt und gegenseitig beobachtet. Das wunderbar abgedrehte Finale beendet dann das etwas selbstverliebte Spiel mit Kino-Zitaten, irgendwo zwischen James Bond und Harry Potter. Was für ein geiler Quatsch.
Ein eingespieltes Team, das zu den besten im „Tatort“-Kosmos gehört
Eines noch: Zwischendurch bereitet Margarita Broich dem Party-Publikum bei Fannys (Zazie de Paris) Geburtstag – und uns Zuschauern – das Vergnügen, wie einst Uma Thurman in „Pulp Fiction“ auf Chuck Berrys „You Never Can Tell“ zu tanzen. Allerdings muss Wolfram Koch nicht den John Travolta geben. Auf Ermittler-Seite gibt es diesmal keine Alleingänge. Brix und Janneke sind nicht immer einer Meinung, aber mittlerweile ein eingespieltes Team, das dank der beiden Darsteller und des Muts beim Hessischen Rundfunk zu ungewöhnlichen Stoffen zu den besten des „Tatort“-Kosmos‘ gehört. Nicht zu vergessen der großartige Roeland Wiesnekker, der in „Wendehammer“ wieder den kauzigen Vorgesetzten gibt.