Tatort – Überlebe wenigstens bis morgen

Richy Müller, Felix Klare, Daniela Holtz, Bayan Layla, Katrin Bühlig, Milena Aboyan. Variationen von Einsamkeit

23.11.2025 20:15 ARD TV-Premiere
23.11.2025 20:15 ARD-Mediathek Streaming-Premiere
23.11.2025 21:45 One
25.11.2025 00:25 ARD
Foto: SWR / Benoît Linder
Foto Martina Kalweit

Die Leiche lag über Monate auf dem Wohnzimmerparkett. Niemand hat Nelly vermisst. Den Kommissaren bleibt die Tote ein Rätsel. Dem Zuschauer offenbart sie sich. „Tatort – Überlebe wenigstens bis morgen“ (SWR) springt von der direkten Ansprache in ein Chaos der Gefühle. Trügerische Selbstbilder spiegeln die kranke Psyche einer jungen Frau, die dem Traum nachhängt, liebenswert, perfekt und beneidenswert glücklich zu sein. Bis sich die Wahrheit herauskristallisiert, widmet sich der 30. Fall aus Stuttgart jenen, die sich der Toten im Leben entzogen. Das Drehbuch sowie das Spiel des Stuttgart-Duos Lannert/Bootz garantieren Feingefühl statt moralischer Keule. Auch bei Regie und Episoden-Hauptrolle ergänzte sich ein erprobtes Duo. Das aktuelle Thema Einsamkeit wird so behutsam in den Blick genommen und mit Freiraum für das (mit)denkende Publikum in Szene gesetzt.

„Rücken Sie doch mit dem Stuhl näher heran, dann erzähle ich Ihnen meine Geschichte“, sagt die Stimme aus dem Off. Wenn das mal so einfach wäre – zwischen all den Masken, die Nelly Schlüter (Bayan Layla) trägt. Rückblenden offenbaren eine junge Frau, die Nähe sucht, dabei aber unzugänglich bleibt. Die Konflikte meidet und stattdessen in Traumwelten flüchtet. Eine Mischung, die andere Menschen überfordert. Die aber kein Mordmotiv liefert. Egal, ob beste Freundin, der Ex-Partner oder ein One-Night-Stand. Im Verlauf der Ermittlungen lernt der Zuschauer alle Optionen eines anonymen Großstadt-Single-Lebens kennen. Die Tragik des Falls spiegelt sich in den blassen Gesichtern von Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare). Würde nicht die ebenso burschikose wie unwillkommene Kollegin Möbius (Daniela Holtz) das Büroleben aufmischen, man hätte das Gefühl, die beiden dauernd trösten zu müssen.

Tatort – Überlebe wenigstens bis morgenFoto: SWR / Benoît Linder
Oben: Der Fall nimmt die Kommissare (Richy Müller, Felix Klare) sichtlich mit. Mehr als den einen oder anderen (moralischen) Seitenhieb bekommen die, denen die Tote zu „anstrengend“ war, von ihnen erfreulicherweise nicht ab. Unten: Selbst die langjährige einzige Freundin (Trixi Strobel) lässt Nelly (Bayan Layla) im Stich, und die ist eifersüchtig auf deren (Baby-)Glück.

Heller – sowohl was Faktenlage wie Bildgestaltung angeht – wird es erst im Labor von Dr. Vogt. Während der Auslassungen des Pathologen zieht die Kamera elegant bedächtig an Madengläsern und Petrischalen entlang. „Muss es denn so ausführlich sein?“, fragt Lannert. Muss es, um den Todeszeitpunkt bestimmen zu können. Während die Sequenz im Labor wie auch die meisten Rückblenden in Echtzeit vergehen, dynamisiert Regisseurin Milena Aboyan an anderer Stelle geschickt das Geschehen. So beim Zusammenschnitt der Befragung dreier vorgeladener Herren, die Nelly unter deren Tarnnamen Mr. Big, Spiderman und Thor gedatet hat. Wenn Ermittler Lannert diese Namen laut vorliest, entbehrt das nicht der Komik. Gleichzeitig fällt der Graben zwischen den ernüchterten Ermittlern und „der Welt da draußen“ wieder etwas tiefer ab. Obwohl das Setting dazu einlädt, werden die drei Dates dann nicht vorgeführt, sondern individuell gezeichnet. „Tatort – Überlebe wenigstens bis morgen“ zeigt stark aufspielende Typen, aber auch sie sind nicht glücklich in dieser Welt. Variationen von Einsamkeit durchziehen den Fall. Malik Blumenthal ist als Nellys Ex-Freund ebenso präsent wie die drei Darsteller in ihren Kurzauftritten.

Tatort – Überlebe wenigstens bis morgenFoto: SWR / Benoît Linder
Lana Cooper als Therapeutin Christine Haller. Sie gehört zu den Guten. Überlebe wenigstens bis morgen, heißt ihre Online-Hilfe.

Im vorigen Stuttgart-Einsatz („Verblendung“) zeigten sich Lannert und Bootz schwitzend, unter Dauerstress, persönlich betroffen und im ständigen Dialog. Diesmal ermittelt das Duo ruhig, konzentriert, nachdenklich – und eindrücklicher. Wo der gut gewählte und sparsam eingesetzte Soundtrack unterstützt, wird an der Seite der Kripo-Beamten Einsamkeit genauso wie überraschende Gemeinsamkeit spürbar. So, wenn Thorsten Lannert spätabends das Licht im Büro löscht und über leere Straßen durch Stuttgart fährt. Oder beide Kommissare im Auto über eine gefühlvolle Gesangseinlage ihrer schrägen Kollegin staunen. Wer hätte ihr das zugetraut?

Fein beobachtet, gründen diese Momente auch auf dem geschmeidigen Zusammenspiel von der Dialogpause als Drehbuch-Vorgabe (Katrin Bühlig) und passend eingesetzter Musik. Filmkomponist Kilian Oser setzt Klänge sparsam ein, lässt ausgewählten Songs dann aber mehr Raum als sonst üblich. Oser arbeitete bereits mit Regisseurin Milena Aboyan, ebenso wie Nelly-Darstellerin Bayan Layla (Beste Nachwuchsschauspielerin Bayerischer Filmpreis 2024). Ihr einnehmendes Spiel in dem präzise beobachteten Kinodebüt der Regisseurin wurde mehrfach ausgezeichnet. Das Drama „Elaha“ (2023) war unter anderem für den Deutschen Filmpreis als bester Spielfilm nominiert. Eingespielte Teams vor und hinter der Kamera machen den Fall zu einer leisen, beeindruckenden, nie überdramatisierten Geschichte.

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Reihe

SWR

Mit Felix Klare, Richy Müller, Daniela Holtz, Bayan Layla, Trixi Strobel, Idil Üner, Jürgen Hartmann, Robert Kuchenbuch, Lois Nitsche, Malik Blumenthal, Lana Cooper Melanie Straub

Kamera: Michael Merkel

Szenenbild: Annette Reuther

Kostüm: Tanja Gierich

Schnitt: Isabelle Allgeier

Musik: Kilian Oser

Soundtrack: Cat Power („It’s All Over Now, Baby Blue“), Gundermann („Wenigstens bis morgen“), Tyla („Water“)

Redaktion: Ulrich Herrmann

Produktionsfirma: Südwestrundfunk

Produktion: Nils Reinhardt

Drehbuch: Katrin Bühlig

Regie: Milena Aboyan

EA: 23.11.2025 20:15 Uhr | ARD

weitere EA: 23.11.2025 20:15 Uhr | ARD-Mediathek

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