„Rücken Sie doch mit dem Stuhl näher heran, dann erzähle ich Ihnen meine Geschichte“, sagt die Stimme aus dem Off. Wenn das mal so einfach wäre – zwischen all den Masken, die Nelly Schlüter (Bayan Layla) trägt. Rückblenden offenbaren eine junge Frau, die Nähe sucht, dabei aber unzugänglich bleibt. Die Konflikte meidet und stattdessen in Traumwelten flüchtet. Eine Mischung, die andere Menschen überfordert. Die aber kein Mordmotiv liefert. Egal, ob beste Freundin, der Ex-Partner oder ein One-Night-Stand. Im Verlauf der Ermittlungen lernt der Zuschauer alle Optionen eines anonymen Großstadt-Single-Lebens kennen. Die Tragik des Falls spiegelt sich in den blassen Gesichtern von Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare). Würde nicht die ebenso burschikose wie unwillkommene Kollegin Möbius (Daniela Holtz) das Büroleben aufmischen, man hätte das Gefühl, die beiden dauernd trösten zu müssen.
Foto: SWR / Benoît Linder
Heller – sowohl was Faktenlage wie Bildgestaltung angeht – wird es erst im Labor von Dr. Vogt. Während der Auslassungen des Pathologen zieht die Kamera elegant bedächtig an Madengläsern und Petrischalen entlang. „Muss es denn so ausführlich sein?“, fragt Lannert. Muss es, um den Todeszeitpunkt bestimmen zu können. Während die Sequenz im Labor wie auch die meisten Rückblenden in Echtzeit vergehen, dynamisiert Regisseurin Milena Aboyan an anderer Stelle geschickt das Geschehen. So beim Zusammenschnitt der Befragung dreier vorgeladener Herren, die Nelly unter deren Tarnnamen Mr. Big, Spiderman und Thor gedatet hat. Wenn Ermittler Lannert diese Namen laut vorliest, entbehrt das nicht der Komik. Gleichzeitig fällt der Graben zwischen den ernüchterten Ermittlern und „der Welt da draußen“ wieder etwas tiefer ab. Obwohl das Setting dazu einlädt, werden die drei Dates dann nicht vorgeführt, sondern individuell gezeichnet. „Tatort – Überlebe wenigstens bis morgen“ zeigt stark aufspielende Typen, aber auch sie sind nicht glücklich in dieser Welt. Variationen von Einsamkeit durchziehen den Fall. Malik Blumenthal ist als Nellys Ex-Freund ebenso präsent wie die drei Darsteller in ihren Kurzauftritten.
Foto: SWR / Benoît Linder
Im vorigen Stuttgart-Einsatz („Verblendung“) zeigten sich Lannert und Bootz schwitzend, unter Dauerstress, persönlich betroffen und im ständigen Dialog. Diesmal ermittelt das Duo ruhig, konzentriert, nachdenklich – und eindrücklicher. Wo der gut gewählte und sparsam eingesetzte Soundtrack unterstützt, wird an der Seite der Kripo-Beamten Einsamkeit genauso wie überraschende Gemeinsamkeit spürbar. So, wenn Thorsten Lannert spätabends das Licht im Büro löscht und über leere Straßen durch Stuttgart fährt. Oder beide Kommissare im Auto über eine gefühlvolle Gesangseinlage ihrer schrägen Kollegin staunen. Wer hätte ihr das zugetraut?
Fein beobachtet, gründen diese Momente auch auf dem geschmeidigen Zusammenspiel von der Dialogpause als Drehbuch-Vorgabe (Katrin Bühlig) und passend eingesetzter Musik. Filmkomponist Kilian Oser setzt Klänge sparsam ein, lässt ausgewählten Songs dann aber mehr Raum als sonst üblich. Oser arbeitete bereits mit Regisseurin Milena Aboyan, ebenso wie Nelly-Darstellerin Bayan Layla (Beste Nachwuchsschauspielerin Bayerischer Filmpreis 2024). Ihr einnehmendes Spiel in dem präzise beobachteten Kinodebüt der Regisseurin wurde mehrfach ausgezeichnet. Das Drama „Elaha“ (2023) war unter anderem für den Deutschen Filmpreis als bester Spielfilm nominiert. Eingespielte Teams vor und hinter der Kamera machen den Fall zu einer leisen, beeindruckenden, nie überdramatisierten Geschichte.

