„Mal ganz gut, wenn wir uns ein paar Tage nicht sehen“, grantelt Bibi Fellner. Doch bald weiß sie, was sie an ihrem übellaunigen Ermittlerkollegen hat. Ihr verhasster Vater liegt im Sterben, unweit von Graz, von wo es für sie in den Urlaub gehen sollte. „Er ist dein Vater“, überredet Moritz Eisner sie zu einem letzte Besuch. In einem heruntergekommenen Heim hat er seinen Lebensabend verbracht, vis-à-vis der eigenen Gaststätte, die ihn zugrunde gerichtet hat, bevor sie ihm weggepfändet wurde. Furchtbare Stunden stehen Bibi bevor – gut, dass der Kollege und beste Freund ihr zur Seite steht. Dann die freudige Überraschung, eine heimliche Erbschaft, über 30.000 €. Kann das Geld legal erworben sein? Eisner wittert einen Fall. Es stimmt etwas nicht in dem Heim, in dem die Wände Ohren haben, ein Junkie den Pfleger gibt und die Insassen offenbar einem lukrativen Nebenjob nachgehen. Er soll recht behalten. „Alte Leute sind gefährlich; die haben nichts zu verlieren“, sinniert er am Ende der Privatermittlung.
Der „Tatort – Paradies“ zeigt Altersarmut einmal anders: mit Pensionären, die sich ein Zubrot zur schmalen Rente hinzu verdienen, auf einem gefährlichen Markt – und so sind am Ende mehrere Tote zu verzeichnen. Die Polizisten sind angefressen ob dieser sich hinter dem Mäntelchen ihres Alters und des Nichtwissens versteckenden Altenheimbewohner. In dem Moment, in dem der Traum vom Paradies – sprich: die Hoffnung, dieser Heimhölle noch vor der Bahre zu entfliehen – schwindet, brechen emotional alle Dämme. Die andere Hölle, aus der es noch schwerer ein Entkommen gibt, ist die Familie. „Wenn ich eine Bestätigung gebraucht hätte, dass Familie, dass Allerschlimmste ist“ – Bibi muss dem Satz kein Ende geben. Ihre tragische Familiengeschichte, die letztes Jahr die „Tatort“-Folge „Angezählt“ anriss, wird nun in der neunten Episode des österreichischen Dream-Teams weitererzählt. Und wie schon in jenem Grimme-Preis-gekrönten Film bedient diese Privatgeschichte nicht die Konvention, ab und an einen Ermittler existenziell in einen Fall einzubinden, sondern der Tod von Fellners schrecklichem Vater verpasst dem Film von Harald Sicheritz gleich in den ersten Minuten einen hochgradig emotional-atmosphärischen Tiefgang, der bis zum Ende den Unterboden dieser vertrackten Geschichte um ebenso flexible wie altersstarre Altenheimbewohner bildet.
Aber nicht nur die biographische Nähe gerät Fellner/Eisner bzw. Neuhauser/Krassnitzer ausgesprochen stimmig, was überaus förderlich ist für das Verhältnis der beiden und die Interaktion zwischen Zuschauer und Hauptfiguren, auch in ihrer Rolle als moralische Instanzen überzeugt das Ermittlerduo, eben gerade, weil beide selbst betroffen und zwei erwachsene Menschen sind. So wirken denn ihre Kommentare zur Unmoral der Goldies ebenso wenig aufgesetzt wie die Metapher vom verarmten Pensionär, der am Flughafen den Flugzeugen nachschaut, oder wie das gespiegelte Motiv von der Horrorfamilie. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sich Eisner und Fellner von der jeweiligen Handlung emanzipieren, weil sie ein Eigenleben haben (anders als rituelle Funktionsträger wie beispielsweise die Kölner „Tatort“-Kommissare, deren Moral sich oft in Haltungsnoten äußert), weil sie die Parallelen zwischen Fall und eigener Geschichte selbst thematisieren („Wenn ich eine Bestätigung gebraucht hätte…“). Es zahlt sich aus, dass zwei von Österreichs besten Autoren, Uli Brée und Martin Ambrosch, regelmäßig für den ORF-„Tatort“ schreiben. Und so ist der vergleichende Blick, mit dem der Kritiker für gewöhnlich die einzelnen Folgen begutachtet, längst dem „seriellen Blick“ gewichen. Bei diesem Duo fällt es schwer, die Distanz zu halten.
Diese Top-Wertung hat viel mit der typisch österreichischen Tonart zu tun. Hochdramatisches mit Schmäh präsentiert, das ermöglicht ein Wechselspiel der Affekte: Wo gerade noch tiefe Berührung (nicht nur Rührung) war, macht sich plötzlich ein Schmunzeln breit. Originale wie den pensionierten Polizei-Kollegen Sommer (glänzend: Branko Samarovski) oder Simon Schwarz’ Inkasso-Heinzi, der ein kurzes, aber knackiges Comeback feiert, kann es wohl allenfalls noch im Bayernkrimi geben. Trotz des Themas Altersarmut ist dieser „Tatort“ aus Graz zwischenzeitlich alles andere als ein filmischer Trauerkloß. Ein Ausflug der Kommissare nach Ungarn, der Rentner-Gang hinterher, erfolgt in einer Mischung aus Sixties-Gauner- und Agentenkomödie. Ein Gespräch mit dem schwer verletzten, zuvor stets sehr hungrigen Undercover-Pensionär zeigt, wie nah Tragik und Komik beieinander liegen: Sommer trauert seiner Trevira-Hose nach, die er beim Mordanschlag auf ihn „eingeschifft“ hat, wie er sagt. Man könne sie waschen, rät Eisner. Sommer lächelt: „Diese Hose ist auf ewig belastet.“
Auch wie Moritz Eisner den Rentnern ironisch grinsend mit den angeblichen Knast-Verhältnissen in Ungarn Angst macht, ist eine schön perfide Nummer. Hübsch sarkastisch auch Bibi: „Wir haben jetzt diese neuen Geständnisformulare. Da können’s ankreuzen: Mord, Doppelmord oder Beihilfe zum Mord.“ Der Film steckt nicht nur voller skurriler Sprüche („die Prostata is’ a Luder“) und die Dialoge sind in Kombination mit den Charakteren Musik im Ohr jedes Komik-Liebhabers („I bin vielleicht a Oarsch, aber a Mörder bin i kaner“). Ein bisschen Ösi-Slang geschult muss man allerdings schon sein, um die boshafte Poesie und ätzende Ironie in ihrer ganzen Pracht mitzubekommen. Einen der Schlussspurt-Gags versteht sicherlich jeder. Fragt der Grazer Kripo-Mann: „Mit den Drogen host also nix zu tun?“ Darauf der Inkasso-Heinzi: „Naa, hoaß i vielleicht Drogen-Heinzi?!“ (Text-Stand: 29.7.2014)