Aus heutiger Sicht ist es immer wieder erstaunlich, wie experimentell die „Tatort“-Krimis der frühen achtziger Jahre mitunter anmuteten. „Herzjagd“ (1980) nimmt mit seiner naturalistischen Bildgestaltung über weite Strecken vorweg, was Lars von Trier und seine Mitstreiter 15 Jahre später unter dem Schlagwort „Dogma 95“ zur Filmsprache erkoren haben. Dabei war der vor allem für Literaturverfilmungen wie „Eine blaßblaue Frauenschrift“ bekannte Regisseur Axel Corti alles andere als ein Experimentalfilmer. Aber der Krimi fällt auch inhaltlich aus dem Rahmen: Es ereignen sich zwar zwei Todesfälle, aber kein Mord. Ähnlich interessant ist der stete Wechsel zwischen sehr dynamischen Szenen und langen Einstellungen. Mutig war schließlich auch die Entscheidung, dem damals noch unbekannten Claude-Oliver Rudolph, einem der vielen jungen Darsteller, die ein Jahr später durch den Kinoknüller „Das Boot“ bekannt wurden, die zentrale Rolle anzuvertrauen.
Rudolph wird gleich mit der ersten actionreichen Szene als Draufgänger eingeführt. Er spielt einen Bundeswehrsoldaten aus einfachen Verhältnissen, der sich mit einem Kameraden ein LKW-Wettrennen liefert. Prompt kassiert der Gefreite Tielens eine Urlaubssperre. Weil er aber unbedingt seine schwer herzkranke Mutter im Krankenhaus besuchen will, verlässt er die Kaserne trotzdem. Die Sache fliegt auf, und prompt stehen zwei Feldjäger vor dem Bett. Bei einem Handgemenge kommt einer der Militärpolizisten ums Leben; nun wird Tielens auch noch von der Polizei gesucht. Aber an sich denkt der junge Mann überhaupt nicht: Als er erfährt, dass seine Mutter nicht vom Professor, sondern vom indischen Assistenzarzt operiert werden soll, greift er zu einer verzweifelten Maßnahme.
„Herzjagd“ war gewissermaßen der letzte Krimi mit Hansjörg Felmy. Allerdings taucht der Essener Oberkommissar Haferkamp nur in Form einer Ansichtskarte auf (Felmy missfiel das Drehbuch), die er seinem langjährigen Kollegen Kreutzer aus dem Urlaub schickt. Für Willy Semmelrogge war der Krimi sein einziger Fall als leitender Ermittler; ein gutes halbes Jahr später übernahm ein ungleich berühmterer Kollege die Rolle des WDR-„Tatort“-Kommissars und schuf damit einen Duisburger Mythos. Viel zu tun hat Kreutzer ohnehin nicht; sein wichtigster Beitrag zur Geschichte besteht darin, sich am Ende von Tielens als Geisel nehmen zu lassen. In den Revierszenen dominiert Towje Kleiner als Gastkommissar aus München, der den Film um eine komische Note bereichern soll, aber wie ein Fremdkörper wirkt.
Foto: WDR / Bavaria
Uneingeschränkter Star ist daher Claude-Oliver Rudolph, der in seiner ersten großen Rolle wie ein Rohdiamant durch die Handlung hetzt. Zur Ruhe kommt er auch dank der minutenlang ungeschnittenen Szenen nur am Krankenbett der Mutter (Brunhild Hülsmann). Die physischen Herausforderungen löst Rudolph, der ständig rennen, klettern und über Dächer flüchten muss, mit Bravour. Viel interessanter sind die Dialoge mit gestandenen Schauspielkollegen wie etwa Ernst Jacobi als etwas überspannter Nachbar. Hier wirkt Rudolph, damals Anfang zwanzig, im positiven Sinn wie ein Laiendarsteller, dabei hatte er schon längst unter Peter Zadek am Schauspielhaus Bochum eine Menge Bühnenerfahrung gesammelt. Ähnlich überzeugend sind die anderen Figuren aus Tielens’ Umfeld, allen voran seine aus Köln zugezogene Tante; Tilli Breidenbrach („Lindenstraße“) verströmt als schlichte Frau eine Authentizität, die sich viele Schauspieler heute mühsam (und nicht immer glaubwürdig) erarbeiten müssen.
Reizvoll ist auch die Kameraarbeit Charly Steinbergers, weil sich die Bildgestaltung Rudolphs Spiel anzupassen scheint: Während die Büroaufnahmen klassisches Fernsehspiel sind, wirken die Szenen mit Tielens ähnlich ungeschliffen wie der Hauptdarsteller. Auch die verregneten Außenaufnahmen zeigen mit den Bildern schmuddeliger Hinterhöfe und qualmender Schlote das wahre Leben. Ähnlich ungewöhnlich wie der ganze Film ist auch der Schluss mit der live im dritten Programm des WDR übertragenen Herzoperation. (Text-Stand: 25.8.2015)