Tatort – Der Tote im Nachtzug

Nina Kunzendorf, Joachim Kròl und ein psychophysisches Spiel der Extraklasse

Foto: HR / Johannes Krieg
Foto Rainer Tittelbach

Ein Toter im Nachtzug aus Warschau. Raubmord? Eine alte Rechnung aus Afghanistan? Kommissar Steier gibt sich dem Rotwein hin, Kollegin Mey einem Militärpolizisten – und dann zeigen beide menschliche Größe. Dieses Paar ist klasse. Das derzeit beste in Krimi-Deutschland. Dieser „Tatort“ macht so einiges anders, als es in der ARD-Reihe üblich ist – und Autor-Regisseur Lars Kraume macht es ausgezeichnet anders: Action, Handkamera, Rückblende, ein beschädigter Kommissar, toller Rhythmus. Jede Szene ein kleines Fest!

Ein Toter im Nachtzug aus Warschau. Ein verdächtiger Pole macht sich aus dem Staub, als die Polizei anrückt – und hinterlässt eine Blutspur. Es sieht zunächst alles nach Raubmord aus. Und jener flüchtige Stanislav Kilic könnte der Täter sein. Doch weshalb taucht dieser in der Frankfurter Wohnung des Toten auf? Elsa Lange, die wieder schwangere Ehefrau des Ermordeten, ist außer sich: eine Hiobsbotschaft nach der anderen! Nicht weniger gebeutelt ist Kommissar Steier. Seine Stichverletzung aus dem letzten Fall ist zwar verheilt, dafür plagen ihn Panikattacken. Bei einer späteren Verfolgung des verdächtigen Kilic macht Kommissarin Conny Mey die Bekanntschaft mit einem Elektroschocker – und wenig später mit dem Feldjäger Thomsen. Die Militärpolizei beschattet Kilic, weil sie einen Drogenhändlerring auffliegen lassen will. Kilic verleitete einst beim Militäreinsatz in Afghanistan den Toten zu krummen Geschäften, was dem Deutschen seine Stelle als Sanitäter kostete. Die genaue Analyse des Tatorts und des Tathergangs vor Ort bringt den Ermittlern neue Erkenntnisse. Doch der Spurensicherer sagt Nein zu Steiers Annahmen. Der gibt sich dem Rotwein hin, seine Kollegin dem Feldjäger – und danach zeigen Mey und Steier menschliche Größe.

Tatort – Der Tote im NachtzugFoto: HR / Johannes Krieg
Ermittelt Conny Mey (Nina Kunzendorf) tatsächlich ohne Hose? Kollege Steier (Joachim Kròl) wundert gar nichts mehr bei dieser Kollegin. Inka Friedrich

„Schön, dass Sie wieder da sind – ich freue mich“, strahlt Conny Mey und umarmt ihren gehemmten Kollegen Steier. Der scheint sich mal wieder die ganze Zeit nur still in sich hinein zu wundern (ob dieser Kollegin). „Wo ist denn Ihre Hose?“, kommt es dann schließlich doch aus ihm heraus. Mey ermittelt tatsächlich anfangs ohne Hose – ohne lange Hose. Die Nachricht von der Leiche überraschte die Frau beim Joggen, die später wieder beweisen darf, dass sie sich vorzugsweise bunt und billig kleidet. Dieses Paar ist klasse. Das derzeit beste in Krimi-Deutschland. „Der Tote im Nachtzug“ bietet die Gelegenheit, die beiden Kommissare so gut kennen zu lernen, wie man kaum einen ihrer Krimi-Kollegen kennt. Keine biographischen Banalitäten, sondern mentale Grundbefindlichkeiten. Mey ist kein Kind von Traurigkeit: sie weiß, wer sie ist und was sie will. Und Steiger als suchtgefährdeten Melancholiker zu bezeichnen, wäre untertrieben. Zudem ist er ein Mann, der seine eigenen Unzulänglichkeiten nicht erträgt, ein Mann, der sich nicht sonderlich mag… Die Art und Weise, wie beispielsweise Nina Kunzendorf und Joachim Król auf engstem Raum den Tathergang akribisch rekonstruieren – das ist psychophysisches Fernsehen der Extraklasse. Das besonders Aufregende daran: immer wieder gewinnt die optimistische Frische von Kommissarin Mey die Oberhand. Da kann zwischenzeitlich schon mal soziales und seelisches Leid in den Vordergrund gerückt werden – immer wieder schlägt das Spielerische durch in diesem Fall, in diesem Film von Lars Kraume. Das ist umso bemerkenswerter, weil ausgerechnet Drama-Queen Kunzendorf diese leicht abgedrehte Lockerheit forciert.

Tatort – Der Tote im NachtzugFoto: HR / Johannes Krieg
„Der Tote im Nachtzug“ macht Vieles anders als andere „Tatorte“! Kunzendorf, Kròl. Im eigenwilligen Nachstellen der Tat-Situation nahmen Mey/Steier die Methoden von Faber/Bönisch vorweg.

Dieser „Tatort“ macht so einiges anders, als es in der ARD-Reihe üblich ist: da gibt es reichlich Action, Verfolgungsjagden über den Kiez, entsprechend übermäßig viel Handkamera, es gibt eine längere Rückblende, die Gasthauptrolle, Benno Fürmann, wird beiläufig wie ein Statist eingeführt, die Kommissare trinken schon mal einen gehörig über den Durst (jeder aus ganz verschiedenen Gründen) und von den sexuellen Eskapaden, die dem Begriff „vertraulich“ eine neue Bedeutung geben, war bereits die Rede. Es anders zu machen, mag kein Wert an sich sein, es so zu machen wie Kraume, Kunzendorf und Kròl allerdings schon! „Der Tote im Nachtzug“ ist unglaublich abwechslungsreich – was die Schauplätze und Situationen angeht. Kaum eine Szene, die es nicht verdient hätte, in Erinnerung zu bleiben: mal ist es eine tiefe Emotion, mal ein dramaturgischer Clou, mal ein filmischer Effekt, ein, zwei Bildausschnitte wie die vom Frankfurter Hinterhof, durch den Mey hinter Kilic vergebens herhechtet. Manchmal ist es die Musik, das Sounddesign, das sich über den Rhythmus der Bildmontage legt. Dann ist es ein launiger Moment, der für Entlastung sorgt im Fluss der (An-)Spannung. Eine Merkliste über starke Szenen zu führen, muss man bei diesem Film schnell aufgeben!

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Reihe

HR

Mit Nina Kunzendorf, Joachim Kròl, Benno Fürmann, Inka Friedrich, Jevgenij Sitochin, Arnd Klawitter, Gerd Wameling

Kamera: Armin Alker

Schnitt: Silke Franken

Produktionsfirma: Hessischer Rundfunk

Drehbuch: Lars Kraume

Regie: Lars Kraume

Quote: 9,30 Mio. Zuschauer (24,8% MA)

EA: 20.11.2011 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
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Kontoinhaber: Rainer Tittelbach