Keine guten Tage für die Weimarer Polizei. Erst kündigt Kripo-Chef Stich (Thorsten Merten) seinen Abgang an, um sich höheren Aufgaben zu widmen, und dann wird ein Geldbote auf offener Straße erschossen. „Ein Raubüberfall“, vermutet Stich, „eine Exekution“ sieht dagegen Kira Dorn (Nora Tschirner) in diesem Mord aus dreißig Zentimetern Nähe. Mit Thesen zurück hält sich allein Lessing (Christian Ulmen) – denn der fällt ein Weilchen aus, weil er bei einer Verfolgungsjagd, die in der berühmten Parkhöhle der Goethe-Stadt endete, etwas abbekommen hat: zwar nur ein Streifschuss, dennoch muss er unter ärztlicher Aufsicht bleiben. Und als ob das nicht schon genug wäre, erwischt es einen Tag später einen weiteren Geldboten; er liegt im Koma. Eine Viertelmillion wurde erbeutet – was wohl doch eher für Raubüberfall spricht. Die Spuren führen zum Sicherheitsunternehmen „Geist Security“, eine große Familie, wie die treue Mitarbeiterin Kerstin Brune (Jördis Trauer) und der malade Geldbote Pierre Mahlig (Florian Kroop) versichern. Dorn aber kommt dieser pseudo-spirituelle Muskel-Macker-Laden merkwürdig vor. Und was Firmeninhaber John Geist (Ronald Zehrfeld) mit seinem Privatzoo voller seltener exotischer Vogelarten da noch so nebenher „beruflich“ treibt, das ist ihr genauso suspekt wie die mit Geist bestens bekannte Verwaltungsangestellte (Inga Busch) mit einem besonderen Hang zu(m) Vögeln.
Foto: MDR / Steffen Junghans
Der elfte „Tatort“ aus Weimar beginnt wie ein handelsüblicher Whodunit – allerdings mit sehr hübscher Verpackung. Damit ist weniger Nora Tschirner gemeint, deren Kommissarin diesmal weniger kess & keck auftritt, als vielmehr die filmische Umsetzung durch Regisseurin Mira Thiel („Tatort – Der letzte Schrey“), die auch am Drehbuch von Murmel Clausen beteiligt war. Bereits das Intro, eine Montage, die Bilder und Motive der Geschichte vorwegnimmt, hat es in sich: ein Geschoss, ein Auge, ein Fresko, ein kahler Baum, eine Waffe in der Hand der Kommissarin, eine Verfolgung, ein Schuss. Wenig später liest man den Titel des Films, „Der feine Geist“, auf der Fassade eines ziemlich sanierungsbedürftigen Stadthauses, das früher eine Gaststätte beherbergte und jetzt das neue Zuhause von Dorn, Lessing und ihrem Zwerg ist. Große Klasse in ihrer bisweilen surrealen Anmutung sind die Ausflüge in die Weimarer Parkhöhle, ein unterirdisches Stollensystem, ganz gleich, ob unter Tage aufgenommen oder nicht. Auch wird die emotionale Nähe zwischen dem Paar in den gemeinsamen Szenen von Tschirner und Ulmen immer wieder mit auch optisch interessanten Naheinstellungen betont. Und wenn die beiden telefonieren stecken Witz & Ironie diesmal nicht im Dialog, sondern im Bild: Wenn beispielsweise der angeschossene Lessing wegen Überfüllung der Notaufnahme bei der Kollegin, die die erste Leiche begutachtet, verarztet wird. Auch eine Befragung in einer Klinik – weil ein Ermittler das Krankenbett hütet – ist mal was Anderes.
Zunächst nimmt man es dem Film allerdings schon ein bisschen übel, dass Ulmen – ähnlich wie erst 2019 in „Die harte Kern“ – weniger präsent ist. Denn durch seine Abwesenheit fehlt in „Der feine Geist“ der verbale Schlagabtausch dieser beiden so unterschiedlich tickenden Sympathiefiguren. So gibt es kein Lessing‘sches Klugscheißern mehr, aber auch die Frechdachsereien der im Kopf so flinken Dorn halten sich in Grenzen. Mit anderen lässt es sich eben nicht so lustvoll scherzen. Aber irgendwas geht immer – selbst bei Magen-Darm. Dorn: „Ich will zu Herrn Mahlig.“ Eine Mitarbeiterin: „Der hat reichlich viel Luft im Bauch.“ Dorn: „Ich bin verheiratet; ich weiß wie Männer riechen können.“ Und eben jener Mahlig bekommt bald Urlaub auf Staatskosten. „Sie ahnen, warum keine Kekse auf dem Tisch stehen?! Möchten Sie ein Einzel- oder ein Doppelzimmer?“ Der Vorteil der Abwesenheit des Partners: Die flapsigen Einwürfe der Kommissarin kann Tschirner noch beiläufiger als sonst loslassen. Und weil sie allein ermittelt, ermittelt sie nicht plappernd, sondern sehenden Auges – was wiederum Vorteile hat für das filmische Erzählen. Damit sind wir wieder bei Mira Thiel: Ihr gelingt ein guter Rhythmus aus Innen- und Außenszenen; sehr bewegte Momente wechseln sich ab mit eher statischen Bildern, in denen das vorzügliche Szenenbild (Jürgen Schäfer) voll zur Geltung kommt. All‘ diese Eindrücke arbeiten mehr und mehr der kleinen Enttäuschung entgegen, dass man als Zuschauer um das betrogen wird, was jahrelang der besondere Reiz, ja das Alleinstellungsmerkmal des Weimarer „Tatort“, war. Und so lautet die Erkenntnis des Kritikers zur Halbzeit: Etwas muss nicht weiterhin so sein, weil es bisher (immer) so war…
Foto: MDR / Steffen Junghans
Doch plötzlich, nach einer Stunde, passiert etwas Unglaubliches, ja geradezu Unfassbares. Erst gerät die Geschichte aus der Spur. Dadurch muss auch die Dramaturgie einen Weg gehen, den man so verrückt und überkandidelt bisher nur aus dem hessischen „Tatort“ mit Ulrich Tukur kannte. Während ausgesprochene Lügen in Filmen fast nie funktionieren, wie Hitchcock gern betonte (Musterbeispiel: Marlene Dietrichs Lüge in „Die rote Lola“), stellt eine psychologisch motivierte Wahrnehmungslüge den Whodunit nicht grundsätzlich in Frage. Allerdings muss das bisher Erzählte und Gesehene logisch neu eingeordnet werden. Clausen und Thiel gelingt das ebenso stimmig wie stimmungsvoll. Jetzt kehren auch die Bilder aus dem Intro zurück, mischen sich mit winterlicher Wehmut. Auch wenn der so erheiternd querschießende Lessing/Ulmen fehlt, wird man „Der feine Geist“ als einen ungewöhnlichen und – vor allem retrospektiv betrachtet – stimmigen Krimi in Erinnerung behalten, der Familie als Teil einer Firmenpolitik und als harmonische Dreisamkeit (der „Zwerg“ bekommt erstmals ein Gesicht) zeigt, der nicht ohne Grund schärfer als gewohnt trennt zwischen Komik (Sidekick Lupo) & Ernst, zwischen Gags & Tränen, der wenig alberne Witze macht und sich sogar die für den „Tatort“ Weimar so typischen Kalauer verkneift. (Text-Stand: 9.12.2020)