Die 17-jährige Julia (Mala Emde) wird von ihrem Bruder Nils (Sven Schelker) mit einem Kabelbinder an ein Heizungsrohr gefesselt. „Rühr dich nicht vom Fleck“, befiehlt er und verschwindet. Sie befreit sich, rennt mit blutenden Handgelenken zur Wohnung ihrer Mitschülerin Maria (Franziska Brandmeier). Unterwegs alarmiert sie die Polizei. Die Tür der Wohnung steht offen, Maria ist nicht da, ihr allein gelassenes Baby schreit. Als Borowski (Axel Milberg) und Sarah Brandt (Sibel Kekilli) eintreffen, beschuldigt Julia ihren Bruder, Maria umgebracht zu haben. Sie habe ihn erpresst. „Warum?“, fragt Brandt. „Drogen“, antwortet Julia knapp. Zuvor hatte sie mit einiger Entschiedenheit erklärt, Maria sei nicht ihre Freundin. Später wird die Leiche Marias tatsächlich in der Kieler Förde gefunden.
Ein ganz normaler Krimi also? Weit gefehlt. Die konventionelle Kriminal-Episode ist nur – leider wenig überzeugendes – Beiwerk eines ungewöhnlichen Themen-Films. Es geht um die Radikalisierung einer jungen Deutschen, die konvertiert und in das vom Islamischen Staat (IS) kontrollierte Gebiet reisen will. Die ersten Minuten sind zwar etwas verwirrend, aber aufgrund einer einfallsreichen Inszenierung und der eindringlichen Kamera vielversprechend. Der oben geschilderte Krimi-Einstieg wird in einer Parallelmontage mit anderen Szenen und Elementen kombiniert, die das Grund-Thema bereits aufgreifen. Julia ist mit Kopftuch auf den Straßen Kiels zu sehen, aus dem Off hören wir eine Art Abschiedsbrief: „Liebe Mama, wenn du das hier liest, werde ich nicht mehr da sein.“ Dass Schauspielerin Mala Emde den nächsten Satz („Mach dir keine Sorgen, ich werde dir bald schreiben“) vor der Kamera spricht, hat einen zusätzlichen Verfremdungs-Effekt. Im Vorspann tauchen außerdem religiöse Text-Einblendungen wie „Du bist der einzige Gott“ auf. Und mit Hasim Mahdi (Dogan Padar), der aus einem Gefängnis entlassen wird und in einer Moschee Unterschlupf findet, wird ein weiterer Handlungsfaden ausgelegt. Auch Hasim versucht, Maria telefonisch zu erreichen. Am Bahnhof wird ihm ein Päckchen zugesteckt, in dem sich eine Pistole befindet.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Dass direkt neben dem Kommissariat eine Flüchtlings-Unterkunft eingerichtet wurde, könnte man für einen übertrieben dick aufgetragenen Drehbuch-Einfall halten. Tatsächlich sind die Flüchtlinge aber in der Realität am Drehort für das Polizeigebäude, der ehemaligen Marinetechnikschule in Kiel, einquartiert worden. Und Regisseur Raymond Ley bezieht diese Wirklichkeit einfach mit ein, ohne dass, wie gelegentlich im „Tatort“ Usus, auch noch belehrende Dialoge zur Flüchtlingspolitik eingebaut wurden. Die Flüchtlinge sind zugleich mehr als nur eine undefinierbare Masse, die der Polizei im Weg herumsteht: Da ist der Junge, der dem Kommissar immer einen Parkplatz freihält („Kleiner Schleimer“, murmelt Borowski) und ihm später stolz sein Schulheft zeigt. Und der Vater des Jungen attackiert in der Moschee einen Hassprediger. Mit minimalen Mitteln erzählen Regisseur Ley und seine Frau und Co-Autorin Hannah, die beide das Drehbuch von Charlotte I. Pehlivani überarbeiteten, vom Unterschied zwischen Islamisten und den muslimischen Flüchtlingen, die vor der Gewalt ihrer eigenen Glaubensbrüder flohen. Soviel Didaktik darf in diesen Zeiten schon sein.
Mit zahlreichen Dokudramen wie „Die Nacht der großen Flut“ oder „Eine mörderische Entscheidung“ haben sich die Leys in den vergangenen Jahren zeitgeschichtlichen Themen gewidmet. Dieser Kieler „Tatort“ markiert ihr rein fiktionales Debüt, in dem sie jedoch nicht völlig auf dokumentarische Mittel verzichteten. Zum einen verwendeten sie Propaganda-Bilder aus IS-Videos. Zum anderen unternahmen Regisseur Ley und Kameramann Philipp Kirsamer vor Beginn der Dreharbeiten einen Spaziergang mit der verschleierten Hauptdarstellerin Mala Emde durch die Kieler Innenstadt, aufgenommen mit einer versteckten Kamera. „Wir wollten schauen, was mit mir und mit den Leuten passiert. Deren Blicke waren oft verurteilend. Wir wurden beschimpft“, erinnert sich Emde. Das ist freilich nicht zu sehen in den wackligen Video-Bildern, die zu Beginn und am Ende des Films eingebaut wurden. Es gibt allerdings eine inszenierte Szene, in der ein Passant der verschleierten Julia vor die Füße spuckt. Auch das an ein Videotagebuch erinnernde Vermächtnis an die Mutter sei aus dieser Improvisation heraus entstanden, erklärt Ley, der der mädchenhaften und zugleich kraftvollen Ausstrahlung von Mala Emde bereits in „Meine Tochter Anne Frank“ vertraut hatte.
Hier überzeugt die junge Schauspielerin als ernstes, in sich gekehrtes Wesen. Julia macht ihre Mutter (Patrycia Ziolkowska) für den Unfalltod ihres Vaters verantwortlich. Doch die eine Erklärung für die Abkehr von der westlichen Lebensweise bietet der Film nicht an. Wie Julia Kontakt zur islamistischen Szene bekam, bleibt offen. Auch die Freundschaft zu Amina (Sithembile Menck), die Julia dazu bewegt, zum Islam zu konvertieren, kommt wie aus heiterem Himmel. Das Ungewisse, Unberechenbare ist gerade die Stärke dieser Figur, weil es doch ohnehin kaum zu erklären ist, wieso sich weibliche Teenager aus Mitteleuropa auf die Seite von Islamisten schlagen. An einer Dialog-Stelle wird auf „dieses Mädchen in Hannover, das den Polizisten abgestochen hat“, Bezug genommen. Aber Mala Emde spielt eher gegen das Klischee einer fanatisierten, zu allem bereiten Terroristin in spe an. Aus dem Off hört man ab und zu Sätze aus ihrem „Vermächtnis“, etwa: „Ich will einen starken Gott. Ich will Regeln.“ Es sind befremdliche, mitunter naiv klingende Belege für die religiös entrückte Gedankenwelt eines Mädchens, das auf der Suche nach einem Halt im Leben ist.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Mala Emdes Spiel, Leys Inszenierung und Kirsamers intensive Kamera, die mit vielen Nah-Einstellungen arbeitet, machen diesen „Tatort“ unbedingt sehenswert. Als Borowski im Auto ein Beispiel für die Gräueltaten des IS schildert, hört Julia einfach nicht mehr hin – Borowskis Stimme wird leiser und leiser und schließlich ganz ausgeblendet. Auch hier wieder genügen Ley wenige Mittel, um zu erzählen, wie sinn- und wirkungslos Argumente sein können. Wie unerreichbar junge Menschen werden können, die der Propaganda von Extremisten auf den Leim gegangen sind. Aber es gilt schließlich, die Regeln des „Tatort“-Reihen-Formats zu bedienen. Also wird der erstklassigen Persönlichkeitsstudie eine zweitklassige Krimi-Handlung beigefügt. Dass sich der „Tatort“ darum bemüht, relevante Themen aufzugreifen, ist aller Ehren wert. Ein Filmdrama ohne künstlich angehängte Krimi-Story wäre die bessere Lösung gewesen. Wenn es schon der „Tatort“ sein soll, dann sollte auch der Kriminalfall ähnlich sorgfältig entwickelt werden wie das Themen-Drama.
Bereits die Verbindung zur Geschichte der Hauptfigur wirkt konstruiert. Wieso sich Julia derartige Sorgen um das Schicksal Marias gemacht haben soll, erscheint bis zum Ende seltsam. Der aufbrausende Bruder Nils und der finstere Muslim Hasim bleiben eindimensionale Figuren, die nur Mittel zum Zweck sind. Immerhin hat der Film die eine oder andere überraschende Wendung zu bieten, auch wenn es nicht gerade eine neue, originelle Idee ist, dass der Staatsschutz der Polizei in die Quere kommt und sein eigenes Süppchen kocht. Jürgen Prochnow gibt sich hier mal wieder die „Tatort“-Ehre und spielt den Staatsschützer Kesting, der mit einer fragwürdigen Operation an die Namen islamistischer Hintermänner zu gelangen sucht und dabei Julia als eine Art Köder benutzt.
Und die Kommissare? Über weite Strecken haben Borowski und Brandt die üblichen Ermittler-Szenen zu bewältigen, erst gegen Ende kommen ihre Persönlichkeiten besser zur Geltung: Der sture, eigenwillige Borowski, der nach menschlichen Maßstäben handelt statt nach Vorschriften. Die kühle, ungeduldige Brandt, die aufgrund ihrer eigenen Familien-Geschichte Verständnis für Julia entwickelt. Sie treten beide zugunsten der starken Hauptfigur ein wenig in den Hintergrund, tappen entweder im Dunkeln oder stehen Julias Verhalten ratlos gegenüber. Marias Tod wird zwar aufgeklärt, doch die klassischen Vertreter des Guten, die am Ende des Krimis die Welt zur Beruhigung des Publikums heilen, sind Borowski und Brandt nicht. Und dies ist dem Thema wiederum angemessen. (Text-Stand: 14.10.2016)