Wut, ein schlechtes Gewissen und eine tote Ex-Geliebte
Es war eine grausliche Geschichte. Ein Mädchen fünf Jahre in der Gewalt eines Mannes, festgehalten in einem Verlies. Vor einem Jahr wurde der Fall zu den Akten gelegt. Jetzt liegt die Frau, die hinter dem Fall mehr witterte als die Tat eines perversen Einzeltäters, selbst tot in jenem Verlies des niederösterreichischen Gemäuers des Schreckens. „Die Chefin ist ständig da unten herumgekrochen, um sich in das Opfer hineinzuversetzen“, erinnert sich ihr Kollege. „Die Franzi hat unter Verfolgungswahn gelitten“, weiß auch Eisners Chef. „Es war ein Unfall“, diese Order wird von ganz oben ausgegeben. Keine Obduktion, die Akte bleibt unter Verschluss. Eisner ist doppelt geladen. Da ist nicht nur die Arroganz der Mächtigen, die ihn wütend macht, da ist auch das eigene schlechte Gewissen. Vor 15 Jahren hatte er eine Affäre mit der Toten, die ihre Ehe für ihn aufgegeben hat – nicht nur damals hat er sie hängen lassen. Was sagte ihm doch gleich der Mann der Toten? „Werde ihr wenigstens im Tod gerecht.“
Zwei depressive Bullen gegen die verwanzte feine Gesellschaft
Und es gibt weitere Vorfälle, die den Wiener Oberstleutnant in seinem 22. Einsatz unter Druck, ja emotional regelrecht in Ausnahmezustand versetzen. In diesem ORF-„Tatort“ von Harald Sicheritz nach dem Drehbuch vom klugen Vielschreiber Uli Brée tun sich Titel gebende „Abgründe“ auf, die nicht nur die verwanzte feine Gesellschaft der Alpenrepublik, sondern auch den sonst so korrekten Chefermittler angehen. Am Ende muss er ohne Dienstmarke diesen niederösterreichischen Saustall ausmisten. Auch wenn es zwischen ihm und Kollegin Fellner alias „Bibi, Puppe“ schon mal verbal kracht, so steht allein sie ihm freundschaftlich zur Seite. Wenn er am Ende ist, motiviert sie ihn; wenn sie durchhängt, treibt er sie an. Dieses Prinzip zieht sich durch den Film, der dadurch – betrachtet man es dramaturgisch – eine Art manisch-depressive Erzählstruktur bekommt. Das passt zu Österreich, das passt zu Wien, das passt zu diesem erwachsenen „Tatort“-Pärchen, das so „authentisch“ ist, so lebendig, das so physisch, so wunderbar situativ eigene Verletzungen ausagiert, dass es keiner „besonderen“ Ästhetik bedarf, sondern sich das Paar selbst zum State of the Art macht. Dass der „Tatort“ ohne bekannte Gesichter in den Gastrollen auskommt und dass die vorfilmische Realität, der mit seiner Eiseskälte spürbare Winter (die richtige Jahreszeit für diesen Film, für dieses Thema), so präsent ist, trägt entscheidend mit bei zu dem „Echtheitseindruck“, der sich beim Sehen des Film mit seinem bläulich-düsteren Licht und den vielen Nachtaufnahmen einstellt.
Ironie, Schmäh und Gekampel als Überlebensstrategie
Dieser ORF-„Tatort“ ist nicht bis ins Detail so perfekt wie beispielsweise „Ausgelöscht“, ebenfalls von Brée/Sicheritz, oder zuletzt das fulminante Krimidrama „Angezählt“ vom Duo Ambrosch/Derflinger. Das Drehbuch, das wunderbare Motivketten entspinnt (Bibis Pontiac-„Schlampenschleuder“, das Gewehr im Kofferraum, die Vor- und Nachteile einer Gspusi am Arbeitsplatz) und so eine unaufdringliche Dichte erzeugt, besitzt gelegentlich kleine Schwächen. Moritz Eisner leidet schon genug. Ob es da auch noch eines Unfalls seiner geliebten Tochter bedarf?! Andererseits wird dadurch sein Egotrip noch stärker motiviert. Auf den ersten Blick misslungen wirkt eine Szene, in der Bibi und Eisner einem Hauptverdächtigen eine Vorwurfsarie halten, die zwar viel von der Wut der Ermittler transportiert, die aber in erster Linie dazu da ist, den Zuschauer über die Vorgeschichte zu informieren. Aber selbst so eine rhetorische Szene machen Krassnitzer und Neuhauser (dazu das dumme Gesicht des Beschuldigten) dann doch noch zu einem „Erlebnis“ – auch deshalb, weil ihre Figuren danach dieser Situation selbst mit Ironie begegnen. Bibi: „Das war nicht unser bestes Verhör.“ Eisner zerknirscht: „Wir hatten schon schlechtere.“ Ironie ist ein Moment der Aufklärung. Diese beiden sind aufgeklärt, das sind keine Hanseln am Gängelband von Autor und Regisseur.
Den Dreck sehen & erleben durch die Brille der Kommissare
„Je beschissener das Klischee, umso wahrer ist es.“ Wer so redet, lustvoll versetzt mit Wiener Schmäh, dem kann man selbst den soundsovielten TV-Krimi über einen Kinderpornoring noch abnehmen. Darüber hinaus schafft es „Abgründe“, ohne auf der Bildebene in irgendeiner Weise spekulativ die Themen Kindesmissbrauch und -prostitution anzugehen, ein Gefühl für die widerwärtig-abscheulichen Vorgänge. Nur zwei Mal wird ein Eindruck von dem vermittelt, was hier Abartiges vor sich geht. So entdecken die Kommissare a.D. eine Folterkammer mit Teddys & Puppen, und auch der Zustand zweier Mädchen, die unter bestialischen Umständen gefangen gehalten wurden, wird kurz gezeigt: zwei zerstörte Kinderseelen, ein Blick aus der Ferne hier, eine Umarmung dort. Das reicht, um eine Ahnung zu bekommen. Es ist die Brille der Kommissare, durch die das Thema transportiert wird. Wie durch ein Brennglas vervielfältigt sich durch sie die Wirkung des Gezeigten. Das ist keine Betroffenheit von der Krimi-Stange. Da ist viel Ohnmacht, Wut und Bitterkeit dabei. Und das ist schon einiges für einen „Tatort“, der ja vor allem spannend unterhalten soll. (Text-Stand: 2.3.2014)