Karl Preus (Sven-Eric Bechtolf) ist ein Mann, der als Betreiber einer Schnapsbrennerei stets groß gedacht und der auch im Privatleben nie gekleckert hat. Drei Frauen lieben diesen charismatisch-narzisstischen Filou: seine Zwillingsschwester Julia (Leslie Malton), seine erste Frau Constanze (Suzanne von Borsody) und seine zweite Frau Ricarda (Désirée Nosbusch). Zum sechzigsten Geburtstag von ihm und Julia kommt der Preus-Clan für dessen Verhältnisse friedlich zusammen: Karls Kinder mit Ricarda, die drogenabhängige Simone (Lilly Charlotte Dreesen) und die mit ihrem gewalttätigen Ehemann Urban (Anton Spieker) gestrafte Marguerite (Antonia Bill); Constanzes zweiter Mann, Hans (Rainer Bock), Anwalt und Freund des Hauses, Julias Sohn Jakob (Hannes Wegener), der noch immer unter seiner Mutter leidet, und seine Frau Lilly (Alina Levshin). Ein ungeladener Gast ist auch dabei: Dorothea (Susanne Wuest), eine Ex-Geliebte des Hausherrn – und sie hat ihm ein lebendiges Geschenk mitgebracht. Am nächsten Morgen ist Karl Preus tot und die Sippschaft, die er in seiner Rede am Tag zuvor als „eine zerstrittene, zersplitterte Familie“ bezeichnete, geschockt. Alle melden Ansprüche an. Doch die Sache mit dem Nachlass wird sich hinziehen. Erst mal brechen alte Verwerfungen auf, drängt Verschwiegenes, kommen tiefe Verletzungen ans Licht.
Foto: ZDF / Massimo Fabris
Die Fassade einer wohlhabenden Familiendynastie bröckelt und droht, einzustürzen. Das, was der Vater in seiner unkonventionellen Ansprache an seine Geburtstagsgäste sagt, ist mehr als eine seiner berüchtigten Provokationen. Auf jeden Fall aber ist es eine dramaturgisch originelle Steilvorlage für das, was kommen wird nach dem Ableben des Patriarchen. Unter der Oberfläche brodelt es: Glücklich ist keiner in dieser Familie, und die Beziehungen untereinander sind allesamt therapiebedürftig. Den einen quält selbst nach dem Tod des Freundes und „Widersachers“ noch immer die Eifersucht. Andere kommen aus ihren toxischen Beziehungen nicht heraus. Einer schläft lieber mit seiner Cousine als mit seiner Frau. Und wo Grappa gebrannt wird, sind Alkoholiker nicht weit. „Jeder hat seine Drogen“ redet und schreibt sich Psychotherapeutin und Buchautorin Julia ihre Trunksucht schön. Und Nicht-Mutter-Constanze fällt ihrer Nachfolgerin im Bett ihres Gönners Karl in den Rücken, indem sie für ihre drogenabhängige Nichte die Ziehmutter spielt, jedoch mit der eigenen Mutter (Marie Anne Fliegel) keinen Kontakt mehr hat. Und Ricarda hat einen guten Grund für die getrennten Schlafzimmer: Sie hat Zungenkrebs und will dies auch vor Karl geheim halten.
Es ist mächtig was los in den 180 Minuten von „Süßer Rausch“. Dem renommierten Drehbuchautor Sathyan Ramesh („Die Reichen Leichen“, „Süßer September“) gelingt es, dem wohlbekannten Familiendrama-Muster „äußerlich perfekt“ und „innerlich tief zerrissen“ ungewöhnliche und reizvolle Aspekte abzugewinnen und bewirkt so, dass diese Fülle an Dramen beim Zuschauer nicht zu Überdruss führen dürften. Kunstvoll verwebt er die kleinen Freuden und großen Leiden dieser Familie zu einem stimmigen (Melo-)Drama. Ähnlich grandios wie die Familienzusammenkünfte der preisgekrönten US-Serie „Succession“ um einen Medienkonzern und seine intrigante Sippe gerät Ramesh die Dramaturgie des Geburtstagsfestes, das über eine halbe Filmstunde dauert. In einer Art gesteigerter Exposition kommt das gesamte Konfliktpotenzial auf die prall gefüllten Tische. Das Suchtthema liegt lustvoll über der Szenerie. Alle sprechen reichlich dem Alkohol zu. Beschwipst vermitteln sich die Inhalte doppelt launig. Dabei wirkt das Setting ausgesprochen realistisch: Man redet, man witzelt, man tanzt, man streitet sich; auch Reichtum schützt vor Banalitäten nicht.
Foto: ZDF / Massimo Fabris
Soundtrack: Shocking Blue („Venus“), Serge Gainsbourg & Jane Birkin („Je t’aime … moi non plus“), Jazzbit („Sing Sing Sing“), Beyoncé („Crazy in Love“), Village People („YMCA“), Tula („Wicked Game“)
Es sind vor allem auch die Dialoge und Interaktionen, die für den gesamten Zweiteiler einnehmen und besonders in der Festszene geballt für den großen Unterhaltungswert sorgen. Das ist umso bestechender als doch melodramatisch angehauchte Plots erfahrungsgemäß eher schwer sind als leichtfüßig, ironisch oder bitterböse. Zudem sind die Dialogwechsel, selbst wenn sie mehr „informieren“ und weniger „charakterisieren“, knackig auf den Punkt geschrieben. „Habt Ihr Probleme?“, fragt die Mutter. „Nö, nur keinen Sex.“ Worauf der Verursacher dieser Misere einwirft: „Sprichst du bitte nicht über meinen Kopf.“ Auch darauf hat die Ehefrau die richtige Antwort: „Wenn ich warte, bist du sprichst, dann sind wir alle alt und tot.“ Es geht Schlag auf Schlag: „Er hat gerade große Schwierigkeiten“, heißt es in einer anderen Szene über einen anderen noch größeren Versager. „Er ist mit Schwierigkeiten geboren“, kontert die Schwiegermutter. Und Rainer Bock, der mit intellektuellem Understatement die bissigsten Sätze von Ramesh in den Mund gelegt bekommt, appelliert im ersten Teil an seine Frau: „Mich kannst du gerne anlügen, aber belüg dich bitte nicht selbst – dann wärst du nicht die Frau, mit der ich verheiratet sein möchte.“ Und als in der ersten Therapiestunde der Psychologe (Oliver Mommsen) die Ehefrau für ihre Offenheit und ihre präzise Beziehungsanalyse lobt, entgegnet diese: „Ich hab‘ ja nie gesagt, dass ich doof bin.“ Die Antwort – „Wenn Sie nicht doof sind, warum bleiben Sie dann bei Ihrem Mann“ – ist zwar erwartbar, dafür aber ist diese Szene eine wunderbare Miniatur – und hinreißend gespielt.
Foto: ZDF / Massimo Fabris
In den beschriebenen und fast allen anderen Szenen spielt hohes Tempo eine entscheidende Rolle. Mitunter werden zwei, drei parallele Szenen stakkato-like miteinander verschnitten. Das zieht den Betrachter in die Handlung – und dürfte selbst ein deutsches Publikum, das für gewöhnlich auf triviale Familien-Sagas wohlwollender reagiert als auf ästhetisch hochwertige Melodramen, mitreißen. Diese Montagen haben allerdings auch einen semantischen Effekt: Sie verdeutlichen, dass in „Süßer Rausch“ die Beziehungen die Handlung antreiben. Das Miteinander der Familienmitglieder ist alles (in der Geschichte), und alles ist Interaktion (im Film). Keiner existiert im Hause Preus für sich. Jeder steckt in einer Vielzahl an Rollen. Ein soziologischer Gemeinplatz. Dieser Zweiteiler macht aus ihm populäre Fernsehkunst.
Die Qualität von Dialogwechseln und die Dichte von Szenen und Situationen lassen sich in einer Kritik schwer vermitteln. Denn man hört und sieht nicht, wie die Schauspieler*innen ihre Texte sprechen, spürt nichts von der Dynamik der Szene, der inneren Spannung zwischen den Charakteren. Auch in diesen Punkten schneidet dieser ZDF-Zweiteiler ausgezeichnet ab. Die Besetzung ist vorzüglich; alle Schauspieler machen ihre Sache gut. Dass Leslie Malton am Ende mehr in Erinnerung bleiben dürfte als Désirée Nosbusch oder Suzanne von Borsody, ist ihrer Rolle als alkoholkranke Sucht-Therapeutin mit spitzen Thesen („Große Liebe Alkohol“ heißt ihr Buch) und heftigen Entzugsszenen („Ich will, dass Sie zur Hölle gehen“) geschuldet.
Foto: ZDF / Massimo Fabris
Die Regisseurin Sabine Derflinger (Grimme-Preis für „Tatort – Angezählt“) hat ein opulentes Werk geschaffen – und alle Gewerke haben eindrucksvoll mit dazu beigetragen, dass das Production Value nicht nur die Sinne der Zuschauer*innen reizt, sondern auch der Geschichte Sinn gibt. Die Kamera bewegt sich im Wechselspiel: mal symbolisiert sie die emotionale Kälte und krankhafte Distanz der feinen Herrschaften, dringt aber auch gelegentlich in den intimen Nahbereich der Charaktere ein, wenn Unlust die frustrierten Partner erfasst oder Fäuste prasseln. „Süßer Rausch“ ist trotz des wohlhabenden Milieus, trotz seiner Geschichte um schweigende Eltern und verwundete Kinder lebendig, mitunter tatsächlich – dem Titel entsprechend – rauschhaft, ein Augenschmaus. Selbst in Dialogszenen ermöglicht einem die Kamera, viele kleine Entdeckungen zu machen. Und das alles wird immer wieder dezent gebrochen durch den bereits beschriebenen Sarkasmus der Charaktere. Die haben Lebenserfahrung, sind nicht auf den Kopf gefallen. Sowas sieht man selten im Fernsehen.
Und weil die Geschichten, die in diesem Film erzählt werden, sich unter der Oberfläche der Handlung befinden, Subtexte, Verborgenes und Verdrängtes den universalen Ton angeben, ja weil sogar das filmische „Material“, die Bilder, über den Plot dominiert, stellen sich die üblichen Irritationen solcher Produktionen, in denen bekannte deutsche Schauspieler teilweise Italiener verkörpern (oder hat der Kritiker etwas überhört?) möglicherweise nicht ein. Die narrative Komplexität, die Dynamik der Kommunikation und das enorme Tempo tragen das Übrige dazu bei. Stets ist man ganz nah bei den Charakteren, die alle – in Kombination mit ihren Darstellern – auch außerhalb des dichten Beziehungsnetzes Interesse wecken. Italien wird so zu einem Kunst-Raum (im Gegensatz zu einem realen Raum), der den Film zum Leben erweckt und in der Nationalität ohne größere Relevanz ist. (Text-Stand: 12.9.2022)
Foto: ZDF / Massimo Fabris