Sag mir nichts

Ursina Lardi, Ronald Zehrfeld, Baumgarten, Kleinert. Mehr als „’ne Fickgeschichte“

Foto: SWR / Julia von Vietinghoff
Foto Rainer Tittelbach

„Sag mir nichts“ erzählt von zwei Spielarten der Liebe: von einer Partnerschaft, die auf (materieller) Sicherheit beruht und über die Jahre ein Stück weit mehr oder weniger schöne Gewohnheit geworden ist, und von einer eher sexuell motivierten Urkraft zwischen den Geschlechtern, die im Idealfall Berge versetzen, aber auch viel kaputt machen kann. Die Macher verzichten auf jede psychologische Ausdeutung, liefern aber viel biografisches & familiäres „Material“ für den Zuschauer. Der bewegt sich auf Augenhöhe mit den Charakteren – und sieht häufig klarer als die in ihrer Leidenschaft und den Fluchtwünschen Verstrickten. Also nicht nur ein Film über die unbändige Begierde, sondern auch ein Film über den Einfluss von Geld und Gesellschaft auf den Sexus. Großes Melodram in Fassbinder-Tradition.

Ihre Blicke treffen sich in der Straßenbahn. Wenig später lehnen Lena (Ursina Lardi) und Martin (Ronald Zehrfeld) am Gitter eines Bolzplatzes und lieben sich leidenschaftlich. War’s das? Zügelloser Sex mit einem fremden Menschen. Sie gehen wortlos auseinander, haben sich offenbar weder ihre Namen gesagt, noch ihre Handy-Nummern ausgetauscht. Zurück in ihrem Alltag, drängt es beide bald danach, das Erlebte zu wiederholen – obwohl jeder von ihnen scheinbar glücklich verheiratet ist: Lena, die künstlerisch ambitionierte Fotografin, mit Bodo (Roeland Wiesnekker), einem einfach gestrickten Malocher, und Martin mit Solveig (Sarah Hostettler), einer bildschönen, aber etwas anstrengenden Tochter aus besserem Hause. Erst ein Zufall führt die beiden wieder zusammen. Und jetzt entbrennt eine heiße Affäre. Mit SMSen organisieren sie ihre spontanen Treffen, bis sie einen ersten „Fluchtversuch“ starten: ein romantisches Wochenende am Meer – das allerdings sehr unromantisch endet. „Bin ich das für dich, so ’ne Fickgeschichte?!“, fährt Lena Martin an. Offenbar ist es ihr mit dem, was sie beide verbindet, ernster als ihm. Für sie, die auch beruflich an einem Scheideweg zu stehen scheint, ist das alles mehr als ein Abenteuer. Sieht sie die Chance für einen doppelten Neuanfang? Doch auch Martin fühlt sich gefangen in seiner Ehe, kontrolliert von einer Frau, die ganz auf den Wunsch, ein Kind zu kriegen, fixiert ist. Er würde gern das langweilige Mannheim gegen Berlin eintauschen. Es muss sich doch mal irgendwas ändern!

Sag mir nichtsFoto: SWR / Julia von Vietinghoff
Tiefenentspannt. Nach dem Spontansex mit Lena kann Martin selbst seine nervigen Schwiegereltern mit einem Lächeln ertragen. Hostettler, Zehrfeld, Gabriel, Leupold

Der ARD-Fernsehfilm „Sag mir nichts“ erzählt von zwei Spielarten der Liebe: von einer Partnerschaft, die auf (materieller) Sicherheit beruht und über die Jahre ein Stück weit mehr oder weniger schöne Gewohnheit geworden ist, und von einer eher sexuell motivierten Urkraft zwischen den Geschlechtern, die im Idealfall Berge versetzen kann, zumindest aber immer gut ist für kräftige emotionale Steinschläge. Durch die genaue Beobachtung des Alltags der Protagonisten und durch den Kontrast zwischen den Momenten sexueller Lust und dem zunehmend als frustrierend erfahrenen Eheleben geht die Geschichte von Norbert Baumgarten weit über ein Seitensprung-Szenario hinaus. Die Liebenden haben nicht nur sich, sondern sie haben langjährige Partner, die Frau hat eine Tochter, der Mann hat Schwiegereltern, die einen größeren Einfluss auf ihn haben, als ihm lieb ist. Und: Die bisher gelebten Beziehungen sind auf den ersten Blick so übel nicht. Sehr geschickt gelingt es Baumgarten, sogar die Arbeitswelt, die Berufe der Paare, ins Spiel zu bringen. Daraus könnten sich denn auch Erklärungen für die große Anziehungskraft jenseits des Sinnlichen ergeben. Könnten. Baumgarten und Regisseur Andreas Kleinert verzichten auf jede psychologische Ausdeutung der Geschichte. Sie liefern aber genügend biografisches und familiäres Spielmaterial, damit sich der Zuschauer selbst einen Reim auf diese Liebesgeschichte(n) machen kann.

Soundtrack: Doors („Break on through“), Herb Alpert („This guy’s in love with you“), Arcade Fire („Empty Room“), Thievery Corporation ft. Lou Lou Ghelichkhani („Décollage“), Robert Mitchum („Sunny“), Prodigy („Breathe“)

Sag mir nichtsFoto: SWR / Julia von Vietinghoff
LASS UNS ABHAUEN – Martin (Ronald Zehrfeld) hat die SMS von Lena (Ursina Lardi) wörtlich genommen. Doch das Wochenende am Meer verläuft anders als geplant. Lena will keine billige Affäre sein. Und vielleicht ist „der Neue“ ja auch gar nicht so aufregend. Martin schnarcht jedenfalls genauso laut wie ihr Mann Bodo.

Die Sexualität allein kann es jedenfalls nicht sein. Vielleicht verspüren ja beide Protagonisten auch unbewusst ein Verlangen danach, die Fesseln ihrer Herkunft abzustreifen und sich von ihrer sozialen „Schicht“ zu emanzipieren? Martin ist ein gefragter Journalist, für den dank seiner Schwiegereltern Geld keine Rolle spielt – aber diese Abhängigkeit nervt auch. Wer in Mannheim wohnt und sich auf eine Stelle in Berlin bewirbt, ohne es dem Partner zu sagen, dürfte ein Stück weit auch von der Sehnsucht getrieben sein, aus dieser Beziehung auszubrechen. Für Lena dagegen spielt Geld durchaus eine Rolle. Weil sie es nicht hat. Mit ihrer Arbeit als Fotografin und Projektkünstlerin, für die es immer weniger öffentliche Gelder gibt, steht sie vor dem Aus. Und natürlich gehört sie nicht zu der Art Frauen, die sich aushalten lassen, im Gegenteil, als es die beiden in ein für sie zu teures Restaurant verschlägt, kann sie Martins großzügige Haltung nicht annehmen (und isst nur einen kleinen Salat). Ein schönes Bild, wie sie später in Gedanken versunken in einem Lokal sitzt, das Café Prag heißt, so ein bisschen die alte Welt repräsentierend, während Martin zeitgleich Gefahr läuft, sich von der Welt der Neureichen kaufen zu lassen. Keine Liebe ohne den Einfluss von Geld und Gesellschaft. Also doch nur eine Fickgeschichte? Kein Film über die große Leidenschaft, sondern über plötzlich ausgebrochene Sehnsüchte, über den Mythos von der zweiten Chance, für die man nun eine geeignete Projektionsfläche gefunden hat? Und genretechnisch also doch am Ende eher ein Melodram, wie es auch Fassbinder hätte erzählen können (wenngleich sicher sehr viel radikaler, böser und weniger elegant als Kleinert) als ein Diskurs über Liebe, Lust und Leidenschaft? Eigentlich stellt man sich diese Fragen erst ganz am Ende des Films. Man dreht ihn quasi in Gedanken zurück, versucht, Erklärungen zu finden – spätestens da erkennt man auch, wie präzise hier alle Interaktionen gezeichnet und wie stimmig die Menschen in ihrer Welt verortet sind. Sex allein ist tatsächlich nicht die Lösung.

Sag mir nichtsFoto: SWR / Julia von Vietinghoff
Der Kinderwunsch wird zum Wahn. Wie wäre das wohl, wenn sie schwanger wäre? Martins Frau Solveig (Sarah Hostettler) trägt Züge einer modernen Melodram-Figur.

Während der 90 Minuten von „Sag mir nichts“ dürfte der geneigte Zuschauer selten grundsätzliche Fragen stellen. Dafür ist das Wechselspiel der Gefühle, das Hin und Her zwischen Alltag und Affäre einfach zu mitreißend. Man bewegt sich ganz auf Augenhöhe mit den Protagonisten. Man folgt ihnen in ihr Leben. Nach dem Quickie am Bolzplatz mit seinem ebenso wortlosen Vorspiel dauert es über 20 Filmminuten, bis sich die Liebenden wiedersehen und im Film hörbar die ersten Worte austauschen. Diese lange Pause, in der einem die Charaktere und ihre Lebensumstände nahegebracht werden, also all das, was die Affäre mitbedingt, ist entscheidend dafür, dass der Zuschauer die Geschichte nicht als „Fickgeschichte“ abtun wird, sondern den Hauptfiguren mit Sympathie und Anteilnahme begegnen kann. Dazu trägt besonders auch bei, dass der Alltag mit den lustvollen kleinen Fluchten die Handlung bestimmt und dass viele Szenen – besonders im ersten Teil des Films – hart und schnell aneinandergeschnitten werden. Dieses Rastlose in der Form korrespondiert mit dem Sujet, der sexuellen Zügellosigkeit, aber auch mit der zunehmenden Haltlosigkeit der Charaktere. Das hohe Tempo ermöglicht zugleich, dass die Sex-Szenen nicht übermäßig ausgespielt werden müssen. Denn nichts ist schwerer im Film darzustellen als sexuelle Leidenschaft. Kleinert macht das richtig gut: Er deutet Sex nicht nur an, er zeigt ihn, aber eben nur kurz. Dadurch gibt er die Leidenschaft nicht der Lächerlichkeit preis, macht aus den Sex-Szenen aber auch keine coolen voyeuristischen Nummern à la „Neuneinhalb Wochen“. Filmisch konsequent eingesetzt wird auch der SMS-Verkehr. „Kann heute noch“, „Lass uns abhauen“ oder „Will dich“ prangt da in Großbuchstaben über dem halben Bildschirm. Da muss man sich folglich fragen: wie hat man das früher gemacht mit den Seitensprüngen?

Sag mir nichtsFoto: SWR / Julia von Vietinghoff
In einer Theaterstückverfilmung von Andreas Kleinert war Ursina Lardi „Die Frau von früher“. In „Sag mir nichts“ ist ihre idealistische Fotografin eine Frau von gestern.

Auch die Besetzung passt. Die zwei in der ersten Reihe, Ursina Lardi und Ronald Zehrfeld, sowie die beiden tragenden Nebendarsteller, Sarah Hostettler und Roeland Wiesnekker als die Betrogenen, bringen viel von ihrer besonderen Ausstrahlung und Physis in die jeweiligen Charaktere ein. Lardi, die Kleinert als Extrem-Liebende bereits in der Theaterstückverfilmung „Die Frau von früher“ besetzt hat, besticht als zerbrechliche Ikone der Leidenschaft. Auch wenn es nicht thematisiert wird: Ihre Lena ist ein paar Jahre älter als der von ihr heiß begehrte Lover, hat bereits eine 15jährige Tochter und mit ihrem Mann dürfte sie schon an die 20 Jahre zusammen sein. Wird die Jugend und/oder das Geld ausschlaggebend sein für den Ausgang der Geschichte? Zehrfeld jedenfalls spielt einen, der für alles offen ist, der Veränderung braucht. Wie ein großer (kräftiger) Junge wirkt er in dieser Rolle, immer ein bisschen fremdbestimmt, ob von seiner Frau, seiner Chefin oder den Schwiegereltern. Wie einer, der Veränderung zwar zu seinem Mantra erhoben hat, aber offenbar von einer Frau gelenkt werden muss. Wird er am Ende der brave Junge bleiben, der es „Mutti“ recht macht? Wiesnekker verkörpert den betrogenen Ehemann als geistig wie körperlich etwas ungelenkes Kraftpaket. Die Untreue seiner Ehefrau macht jenen Bodo fertig, während Martins Frau Solveig der Seitensprung ihres Mannes regelrecht umhaut. Mit einer Verzweiflungstat versucht sie raffiniert und heimlich den Ehemann an sich zu ketten. Hostettler spielt diese unnahbar Verzweifelte am Rande des alltäglichen Wahnsinns zum Frösteln schön. Ihre Solveig wirkt wie eine Fassbinder-Kreatur. Bizarr, wie sie mit Schere, Schwangerschaftstest und falschem Bauch herumhantiert. Beim deutschen Meister des Melodrams wäre in den 70er Jahren sicherlich Blut geflossen. Baumgarten und Kleinert verzichten darauf. Schneeflocken, ein großes Fenster und eine Träne tun es am Ende auch. (Text-Stand: 13.10.2016)

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Fernsehfilm

SWR

Mit Ursina Lardi, Ronald Zehrfeld, Sarah Hostettler, Roeland Wiesnekker, Lea van Acken, Lilly Marie Tschörtner, Andreas Leupold, Gudrun Gabriel, Karin Neuhäuser

Kamera: Johannes Louis

Szenenbild: Emanuel Schleiermacher, Brigitte Schlögel

Kostüm: Andrea Schein

Schnitt: Gisela Zick

Musik: Daniel Dickmeis

Produktionsfirma: Eikon Media

Produktion: Ernst Ludwig Ganzert

Drehbuch: Norbert Baumgarten

Regie: Andreas Kleinert

Quote: 4,42 Mio. Zuschauer (13,7% MA)

EA: 28.12.2016 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

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