Anna ist 16 und hat schon Schlimmes hinter sich. Ein Sozialprojekt für verhaltensauffällige Mädchen führt sie aus Duisburg in die Schweizer Berge. Hier in der Gemeinschaft soll die schwer Traumatisierte nach und nach eine Vorstellung von ihrem künftigen Leben gewinnen. Bisher war es geprägt von einer Mutter, die sich nicht um sie gekümmert hat, und einer besten Freundin, durch die sie in Kriminalität und Prostitution abgerutscht ist. Leiterin dieses fast familiär organisierten Einsiedlerhofs ist Geena, eine engagierte Jugendtherapeutin, die nicht viele Worte macht. „Ich möchte nicht, dass Ihr auf der Straße bleibt. Ich möchte nicht, dass ihr in den Knast kommt“, formuliert sie knapp ihre Motive. Es ist an den Mädchen, fern von den unliebsamen Einflüssen ihrer bisherigen Umwelt, etwas aus ihrer Situation zu machen. Ausgerechnet mit der Schlägerin Magenta freundet sich Anna an. Die ist nur noch auf Bewährung hier. Noch eine Verfehlung und es wartet der Knast auf sie. Anna will sowieso abhauen. Ihr stinkt diese „Heimleiter-Scheiße“. Aber kann sie Magenta tatsächlich vertrauen?
Trauma-Bewältigung in den Alpen. „Puppe“, der Erstling von Sebastian Kutzli nach dem Drehbuch von Marie Amsler, die einst selbst als Erziehungscamp-Betreuerin gearbeitet hat, beginnt im Stile einer Resozialisierungsgeschichte, bevor sich der Film – durch die in Rückblenden nachgereichten Handlungsfragmente der kriminellen Vorgeschichte – zunehmend zu einem Jugenddrama mit Thrillerelementen entwickelt. Einerseits sind die Flashbacks erzählerisch ein kluges Mittel, um die beiden so unterschiedlichen Leben der Hauptfigur, versinnbildlicht in zwei extremen visuellen Welten, dem Zuschauer zu vermitteln. Andererseits beraubt die Duisburg-Geschichte Kutzlis Film um die Möglichkeiten eines ernsthaften (Jugend-)Dramas. Gelegentlich denkt man, es müsse sich endlich auf der Beziehungsebene etwas tun, doch statt einer Vertiefung im Hier und Jetzt gibt es nur wieder einen Kurzausflug ins triste Ruhrpottgrauen aus Schweiß, Tränen und Blut. Oder es bleibt eine seltsame Spannung zwischen den beiden Mädels aus Duisburg bestehen. Die Erklärung, warum alles emotional so ist und dramaturgisch so sein muss, wie es dargestellt ist, bekommt man erst kurz vor dem Ende des Films. Dann erkennt man aber auch, wie sehr doch der Gehalt unter der Konstruktion leidet, was zumindest im Fall dieser Geschichte unbefriedigend ist. Daran kann im Schlussbild nur das erste echte, befreiende Lächeln der Hauptfigur etwas ändern.
Vor allem für Sara Fazilat, die Darstellerin der resozialierungsresistenten Magenta, bedeutet die unentschiedene Genreausrichtung des Films eine ständige Gratwanderung. So ist sie – auch wenn sie vorgibt, die neue beste Freundin zu sein – deutlich der durchtriebene, hinterhältige Antagonist der Geschichte, sie soll allerdings gleichsam zum Ausdruck bringen, dass dieses kriminelle Mädchen oft einfach nicht aus ihrer Haut heraus kann und sich verzweifelt nach Liebe sehnt. Filmisch hat „Puppe“ seine stärksten Momente, wenn die Kommunikation des ohnehin angenehm wortkargen Films reduziert wird auf einen Moment: wenn sich die beiden Widersacherinnen anschauen und man – wie die beiden selbst – ihre Gedanken vom Gesichtsausdruck ablesen möchte; oder wenn die schwer traumatisierte 12-jährige Emma nachts neben Annas Bett steht; oder wenn Corinna Harfouch mit ein, zwei Blicken, einem Lächeln oder einer Umarmung ihren Szenen etwas Physisches und sehr viel Wärme verleiht. Dennoch ist es der Gesichtsausdruck von Anke Retzlaff, der einem von diesem Film am längsten in Erinnerung bleiben wird: dieser ernste, nahezu ausdruckslose Blick, versehen mit einer Spur Trotz, Misstrauen und einer tief sitzenden Angst. (Text-Stand: 3.7.2015)