Polizeiruf 110 – Arme Schweine

Schmidt-Schaller, Ben Becker, Gottfried John, Böhlich. Wirtschaftsflüchtlinge

Foto: MDR
Foto Tilmann P. Gangloff

Der 1993 entstandene „Polizeiruf“-Beitrag „Arme Schweine“ von Bernd Böhlich ist zwar eine interessante Sozialstudie, aber der fernsehgeschichtliche Hintergrund ist letztlich interessanter als der relativ konventionelle Krimi über zwei Mordfälle im Baugewerbe: Der Film war nach dem letzten „Polizeiruf“ des Deutschen Fernsehfunks, „Thanners neuer Job“ (1991), der erste Beitrag zu der Reihe, der damals im Rahmen der neuformierten ARD produziert wurde. „Arme Schweine“ besitzt angenehm wenig vom typischen „Overacting“ jener Jahre.

Die Hintergründe zu diesem „Polizeiruf 110“ aus Dresden
Auftraggebender Sender von „Arme Schweine“ (1994) war der MDR, weshalb der Berliner Kriminaloberkommissar Grawe (Andreas Schmidt-Schaller) plötzlich in Dresden ermittelt, ohne dass dies weiter thematisiert wird. Mit „Grawes letzter Fall“ endete 1995 nach neun Jahren und insgesamt 32 „Polizeiruf“-Krimis die Ära des Kommissars, der es immerhin zum „Schimanski des Ostens“ gebracht hatte. Nicht minder reizvoll ist das weitere Personal: Gewissermaßen an Grawes Seite ermittelt ein junger nassforscher Boulevardjournalist (Ben Becker), der bei seinen Methoden nicht zimperlich ist. Regisseur Bernd Böhlich, der auch das Buch geschrieben hatte, hat offenbar so großen Gefallen an seinem zweiten Hauptdarsteller gefunden, dass er noch im selben Jahr einen weiteren „Polizeiruf“-Beitrag mit ihm drehte, diesmal im Auftrag von SFB und ORB; „Totes Gleis“ gehört zu den Klassikern der Reihe und wurde mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. In einer winzigen Nebenrolle wirkt ein weiterer Schauspieler mit, den fortan eine innige Berufsbeziehung mit Böhlich verbinden sollte: Horst Krause, hier als Hotelportier, der ebenfalls Krause heißt, wurde wenige Jahre später von Böhlich als Dorfpolizist Horst Krause besetzt, der bis 2014 festes Faktotum der Potsdamer „Polizeiruf“-Filme war. Und auch Carmen-Maja Antoni, die in den leisen „Krause“-Komödien wie „Krauses Fest“ oder „Krauses Kur“ die Krause-Schwester spielt, ist mit von der Partie.

Bernd Böhlich mag weder hohes Tempo noch „Overacting“
Interessant ist auch Böhlichs Inszenierungsstil: Das Tempo von „Arme Schweine“ unterscheidet sich streng genommen kaum von seinen heutigen Filmen. Davon profitierten schon damals seine Schauspieler – aber auch für den Zuschauer hat das Vorteile: der findet Zeit und Muße, den ausgezeichneten Mimen bei der Arbeit zuzuschauen. Da Böhlich außerdem kein Freund von „Overacting“ ist, wirken die darstellerischen Leistungen sehr konzentriert. Aus dem Rahmen fällt allein der junge Becker, aber in seinem Fall passt das zur Rolle des rasenden Reporters, der schon allein durch die Art, wie er seinen Kaugummi malträtiert, energiegeladen wirkt. Mit flottem Auto & Sonnenbrille repräsentiert seine Figur die neue Zeit; für eine gute Story geht er, wenn auch nur bildlich gesprochen, über Leichen.

Missstände in der Bauwirtschaft, Schwarzarbeit, Ausbeutung
Abgesehen von einigem Zeitkolorit sind die Hintergründe der Handlung zeitlos, der der jüngste Beitrag zur ZDF-Reihe „Unter Verdacht“ mit Senta Berger, „Betongold“, erzählt eine ganz ähnliche Geschichte: Es geht um Missstände in der Bauwirtschaft, Schwarzarbeit und die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte aus Osteuropa; sie sind die titelgebenden „Armen Schweine“. Die Ermittlungen werden durch den tödlichen Sturz eines Mannes vom Gerüst ausgelöst. Als sich rausstellt, dass er zuvor niedergeschlagen worden ist, muss sich Grawe mit skrupellosen Geschäftemachern befassen, die in der Öffentlichkeit eine weiße Weste zur Schau tragen und angeblich keine Ahnung haben, dass ihre leitenden Angestellten Schwarzarbeiter beschäftigen. Gottfried John spielt einen eifersüchtigen Bauleiter, dessen attraktive Frau (Franziska Matthus) ein Verhältnis mit einem Polen (Marek Włodarczyk) hat, der zwar auch auf dem Bau beschäftigt ist, aber in erster Linie gemeinsam mit seinem Vorarbeiter (Ludger Burmann) teure Autos klaut. Und dann gibt es noch einen Tschechen, der dringend Geld braucht, um die lebensrettende Operation seines Sohnes zu bezahlen.

Ein Krimi, der auch als Zeitdokument einen besonderen Reiz besitzt
Über die Handlung hinaus ist „Arme Schweine“ natürlich auch als Zeitdokument interessant, zumal der eigentliche Fall ohnehin mehr und mehr in den Hintergrund rückt. Zu den Schauplätzen zählt unter anderem die Baustelle des Dresdner Schlosses. Beiläufige Bemerkungen über die grassierende Ausländerfeindlichkeit der Einheimischen, damals allerdings noch vor allem gegenüber den Arbeitern aus den früheren Bruderstaaten, belegen nachdrücklich, dass sich seither nicht viel geändert hat; „der rechte Mob feiert Auferstehung, die Straßen sind nicht mehr sicher“, heißt es einmal. Dazu passt auch ein Dialog zwischen Grawe und seinem Vorgesetzten (Joachim Zschocke). Der Kommissar beklagt das Schicksal der Wirtschaftsflüchtlinge, die was „vom großen Kuchen“ abhaben wollen. „Der ganze Osten besteht aus Wirtschaftsflüchtlingen“, antwortet sein Chef.

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Reihe

MDR

Mit Andreas Schmidt-Schaller, Ben Becker, Gottfried John, Gunter Schoß, Ludger Burmann, Marek Wlodarczyk, Franziska Matthus, Joachim Zschocke, Juraj Durdiak

Kamera: Roland Dressel

Szenenbild: Rose-Marie Halfpap

Kostüm: Isolde Müller-Claut

Schnitt: Brigitte Hujer

Musik: Uwe Buschkötter, Mario Lauer

Produktionsfirma: Delp Film- und Fernsehgesellschaft

Drehbuch: Bernd Böhlich

Regie: Bernd Böhlich

EA: 19.03.1994 20:15 Uhr | ARD

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