Ohne jede Spur – Der Fall der Nathalie B.

Luise von Finckh, Dominic Marcus Singer, Brand, Perez, Esther Rauch. Die aktive Gefangene

24.05.2025 10:00 ARD-Mediathek Mediathek-Premiere
29.05.2025 20:15 ARD TV-Premiere
Foto: Degeto / ORF / Toni Muhr
Foto Rainer Tittelbach

Angefahren, zusammengeschlagen, gefesselt und in einem abgelegenen Haus gefangen gehalten. Die Geschichte, die der Fernsehfilm „Ohne jede Spur – Der Fall Nathalie B.“ (Degeto, ORF / Zeitsprung Pictures) erzählt, ist die Geschichte der österreichischen Triathletin Nathalie Birli, die im Jahr 2019 entführt und gefoltert wurde. „Es geht nicht ums Überleben, sondern ums Weiterleben“, heißt es im Film. Und nicht die Tat ist das Phänomen, sondern die Art und Weise, wie sich die junge Frau aus ihrer lebensbedrohlichen Zwangslage befreit. Das Drama dieser seltsamen Gefangenschaft wird aus ihrer Perspektive erzählt. Nicht zuletzt dadurch befreit sie sich aus der Opferrolle. Während die Szenen „draußen“, die Suche, nicht immer überzeugen können, ist der Zweikampf zwischen dem Entführer und seiner Gefangenen ein psychologisch tiefes, stark gespieltes, hochintensives Drama. So kann man sich True Crime gefallen lassen.

Drei Monate nach der Geburt ihrer Tochter wollte die Triathletin Nathalie B. (Luise von Finckh) nur mal kurz wieder für eine erste Trainingsfahrt aufs Rad steigen. Wenig später befindet sich die 26-jährige Sportlerin in der Gewalt eines Mannes (Dominic Marcus Singer), dessen Absichten nur schwer zu durchschauen sind. Nachdem er sie entführt, eingesperrt und kaum beachtet hat, stellt er sich höflich vor: „Ich bin der Florian, ich bin 33 Jahre alt, und ich mag Fische.“ Will dieser gestört wirkende junge Mann das Kidnapping in ein Date verwandeln? „Wir machen uns jetzt einen richtig schönen Tag und dann schauen wir weiter“, sagt er und bietet ihr ein Glas Rotwein an. Doch als sie sich weigert, mehr zu trinken als ihr als stillende Mutter lieb ist, wird er zornig und flößt ihr den Wein gewaltsam ein. Jetzt hält er es für angemessen, miteinander zu tanzen. Sie erträgt seinen Klammerblues. „Ziehen Sie sich bitte aus“, fordert er sie danach im Bad auf. Als sie sich weigert, wird er grob, taucht sie brutal mit dem Kopf unters Wasser. „Du machst jetzt das, was ich sag‘“. Nathalie versteht zunehmend besser, wie ihr Gegenüber tickt. Wird sie ihn irgendwann so gut verstehen, dass sie ihn überrumpeln kann? Derweil haben „draußen“ ihr Mann (Stefan Gorski) und ihre Eltern (Benjamin Sadler und Aglaia Szyszkowitz) Suchtrupps organisiert. Noch geht hier keiner von einer Gewalttat aus.

Ohne jede Spur – Der Fall der Nathalie B.Foto: Degeto / ORF / Mario Minichmayr
Die Unberechenbarkeit ist das psychologisch gesehen besonders Brutale am Vorgehen des Entführers (Dominic Marcus Singer).

Angefahren, zusammengeschlagen, gefesselt und in einem abgelegenen Haus gefangen gehalten. Die Geschichte, die der Fernsehfilm „Ohne jede Spur – Der Fall Nathalie B.“ erzählt, ist die Geschichte der österreichischen Triathletin Nathalie Birli, die im Jahr 2019 entführt und gefoltert wurde. „Es geht nicht ums Überleben, sondern ums Weiterleben“, heißt es am Ende des Films. Entsprechend verschwindet der Mann in den Schlussszenen aus den Bildern, wird die Stimme der Bedrohung von Sekunde zu Sekunde leiser, das Gesicht des Täters verschwommener. Damit zeigt der Film in seinen letzten Bildern, was er schon zuvor immer wieder deutlich gemacht hat. Es geht um Nathalie B., ja, um Nathalie Birli, die Regisseurin Esther Rauch auch in Interviews offen zur Heldin erklärt. „Nathalie Birli wurde Gewalt angetan. Dennoch haben ihre Selbstverantwortung, ihre geistigen Fähigkeiten und die Verantwortung ihrem Kind gegenüber dazu geführt, dass sie sich aus dieser Situation befreien konnte.“ Konsequenterweise wird das Drama dieser merkwürdigen Gefangenschaft aus ihrer Perspektive erzählt. Nicht zuletzt dadurch befreit sie sich aus der Opferrolle. Sofort nach der Entführung wird sie aktiv. „Hallo!“, ruft sie, gefesselt im Auto oder abgelegt in der Speisekammer; sie strampelt, sie will, dass der Entführer auf sie reagiert. Sie wird laut, nur so kann sie ihrer Angst etwas entgegensetzen. „Reden Sie mit mir. Lassen Sie mich raus.“ Und sie setzt alles daran, fokussiert zu bleiben. „Wenn es im Kopf funktioniert, dann funktioniert es auch im Körper“, diesen Rat hatte sie zuvor noch einer Kollegin gegeben.

Ohne jede Spur – Der Fall der Nathalie B.Foto: Degeto / ORF / Mario Minichmayr
Unkontrolliertes Waterboarding. Der Entführer versucht, mit extremer Folter, Nathalie (Luise von Finckh) gefügig zu machen.

Während Nathalie versucht, trotz einiger extremen Gewaltausbrüche ihres Entführers die unüberschaubare Bedrohungslage nicht eskalieren zu lassen, wird die Situation bei den Suchenden immer angespannter. Der Ehemann steht völlig neben sich, der Schwiegervater beruhigt ihn, die Schwiegermutter kümmert sich um das Baby. Als ein ähnlich gelagerter Fall bekannt wird, auf den bereits im Intro des Films verwiesen wurde, schalten sich neben rund 200 Freiwilligen massiv auch Polizei und Feuerwehr in die Suche ein. Die Szenen „draußen“ gehören zur Realität dieses True-Crime-Falls, sind allerdings mitunter wenig zwingend, da diese Szenen dem Informationsstand des Zuschauers hinterherhinken. Erst auf der Zielgeraden, als sich das Zusammenführen beider Erzählstränge andeutet, erscheinen diese nicht mehr als Fremdkörper. Dramaturgisch aber sind sie zweckmäßig. Zunächst sind diese Sequenzen vor allem dazu da, der Entführung indirekt Struktur zu geben, dramatische Akzente zu setzen, die extremen Situationen gleichsam zu dosieren und – wahrnehmungspsychologisch – immer wieder für Entlastungsmomente zu sorgen. Die Suche selbst bleibt – gemessen an der psychologischen Tiefe des Indoor-Dramas – vordergründig; sie ist sachlich, pragmatisch, technisch. Wenn es emotional wird, können diese Szenen selten überzeugen, wirken gelegentlich überzogen dramatisch.

Ohne jede Spur – Der Fall der Nathalie B.Foto: Degeto / ORF / Toni Muhr
Ein Stück Paradies in der Hölle. Nathalie (Luise von Finckh) erkennt die sensible Seite ihres Entführers und nutzt sie emotional.

Umso intensiver verläuft der Zweikampf zwischen dem Entführer und seiner Gefangenen. Wer Krimis zum Maßstab nimmt, wähnt sich im falschen Film. Keine Lösegeldforderung, kein erkennbarer Racheplan – und Vergewaltigung ist offenbar nicht oberstes Ziel. Erschreckend sind vor allem die Stimmungswechsel. Immer wieder rutscht diesem Florian ein „entschuldige“ heraus, bevor er im nächsten Augenblick mit Waterboarding- oder Würgeaktionen exzessiv seine Macht demonstriert und die junge Frau gefügig zu machen versucht. Und dann entdeckt sie auf einmal eine einzigartig schöne Orchideenzucht. Darin spiegelt sich die tragische Biografie des jungen Mannes, dessen Realitätswahrnehmung zwar gehörig gestört, dem aber eine gewisse Empfindsamkeit nicht fremd ist. Dass der Täter kein Unmensch ist, diese Botschaft schwingt dabei mit; vornehmlich aber geht es um die sich daraus ergebende Möglichkeit für Nathalie, eine emotionale Verbindung zu Florian herzustellen, Nähe und Vertrauen zu ihm aufzubauen, ja, an sein Herz, zu appellieren. „Wünschst du dir auch eine Familie?“ Er erzählt von seiner „Liebe“ in Thailand. Und sie erkennt seine wunden Punkte. Ein Reiz dieser Szenen für den Zuschauer liegt im Spannungsfeld zwischen einer Aufrichtigkeit, die man zu erkennen glaubt, und Nathalies Bewusstheit, dass sie möglicherweise weiterhin um ihr Leben fürchten muss; also alles nur Taktik ist.

„Ohne jede Spur – Der Fall der Nathalie B.“ ist dem Sujet gemäß im Grundton sachlich inszeniert. Die dominierenden Zwei-Personen-Passagen erzählt Regisseurin Esther Rauch („Schnee“) zwar im Stil eines konzentrierten Kammerspiels, die Bilder aber, die zwischen beobachtenden Totalen und hochdynamischen „Nahkampf“-Momenten wechseln, sind in der Regel emotional aufgeladen, kombiniert mit der Spannung, die ohnehin dauerhaft in der Luft liegt. Luise von Finckh, in ihren letzten Rollen in „Das Fest der Liebe“, „Kanzlei Liebling Kreuzberg“ oder „Bauchgefühl“ stets überzeugend, spielt hier ihren bislang komplexesten Charakter. Auch Dominic Marcus Singer als jener offensichtlich nicht zurechnungsfähige Wüterich, dem es an Impulskontrolle und Realitätssinn mangelt, gibt seiner Figur ein Gesicht, ohne sich zu sehr in den Vordergrund zu spielen. Denn nicht die Tat ist das Phänomen, sondern die Art und Weise, wie sich Nathalie B. aus ihrer lebensbedrohlichen Zwangslage befreit. So kann man sich True Crime gefallen lassen.

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Fernsehfilm

ARD Degeto, ORF

Mit Luise von Finckh, Dominic Marcus Singer, Stefan Gorski, Benja-min Sadler, Aglaia Szyszkowitz, Claudia Kottal, Robert Stadlober

Kamera: Mario Minichmayr

Szenenbild: Veronika Merlin

Kostüm: Veronika Albert

Schnitt: Cordula Werner

Musik: René Dohmen, Joachim Dürbeck

Soundtrack: S.T.S. („Irgendwann bleib i dann dort“)

Redaktion: Andrea Bogad-Radatz, Georg Petermandl (beide ORF), Niklas Wirth, Patrick Noel Simon, Christoph Pellander (alle Degeto)

Produktionsfirma: Zeitsprung Pictures, Graf Filmproduktion

Produktion: Dominik Frankowski, Till Derenbach, Michael Souvignier

Drehbuch: Jonas Brand, Lia Perez

Regie: Esther Rauch

EA: 24.05.2025 10:00 Uhr | ARD-Mediathek

weitere EA: 29.05.2025 20:15 Uhr | ARD

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