Staffel 1: Überall, wo Hel(l) auftaucht, verbreitet sie Chaos und Schrecken
„Oh Hell“ war die deutsche Dramedy-Überraschung 2022. Creator Johannes Boss („Jerks“, „Deadlines“) erschuf eine junge Frau, Anfang 20, die anders ist als alle anderen. Helene (Mala Emde), kurz Hel(l) genannt, hat wenig wirkliches Interesse daran, erfolgreich zu sein, noch weniger daran, es öffentlich auszustellen. In beidem ganz groß ist ihre Freundin Maike (Salka Weber), seit Kindertagen das genaue Gegenteil von ihr: zuverlässig, achtsam, woke, gepflegt – einfach perfekt. Während Helene mit Unsinn die Zeit totschlägt, über „Lose-Tagram“ und soziale Medien sinniert, bei denen es darum geht, „Don’t-Likes“ zu sammeln, und sie ihrem Vater (Knut Berger), der sie vergöttert, jahrelang die fleißige Jurastudentin vorgaukelt, besitzt Maike bereits ein Startup-Unternehmen und hat an ihrer schönen Seite einen Mann (Madieu Ulbrich) zum Niederknien. Einen Plan für ihr Leben hat Helene noch nicht gefunden. Sie sucht aber auch nur selten danach. Ob in einer Kita oder im Callcenter, alles ist nicht so ihr Ding, um nicht zu sagen: Überall, wo sie auftaucht, verbreitet sie Chaos und Schrecken. Das war immer schon so. Als Kind ging sie selten zur Schule, dafür öfter zur Psychotherapie, in der sie ihre Eltern maßregelte und zum „saftigen Geschlechtsverkehr“ aufforderte. Später trieb sie ihre Mutter (Deborah Kaufmann) & ihren Stiefvater (Thomas Loibl) fast in den Wahnsinn.
Foto: Magenta TV / good friends
Blühende Fantasie: Der lustvollen Lügnerin sollte man besser nichts glauben
Weil bei der Titelfigur alles danebengeht, sich hohe Intelligenz mit der Naivität eines Kindes zu oft absurdem Verhalten verbinden und ihre größte Kompetenz darin besteht, „ihr Verkacken zu vertuschen“, steckt „Oh Hell“ voller Fremdschäm-Momente, auch deshalb, weil Mala Emde diese „kaputte“ Helene, die nicht darauf drängt, ganz gemacht zu werden, so frisch, sympathisch, unkonventionell und – trotz ihres asozialen Wesens – so einnehmend verkörpert. Außerdem sind ihre Tagträumereien ein Genuss für diejenigen, die ein Herz für Außenseiter und nicht konformes, verqueres Denken haben. Wo alle nach Selbstoptimierung gieren, ist so ein Loser-Gen in Serie (die Brit-Com „Fleabag“ machte es vor) geradezu eine Wohltat. Hell hängt am liebsten mit Madlen (Klara Lange) ab, einem Kindergartenkind, während für sie ihre Begegnungen mit Maike stets Stress bedeuten. Um nicht so dumm dazustehen, erfindet sie die absurdesten Dinge: Traumreisen, ein eigenes Startup – und einen neuen Lover. Den holt sie sich von einer Laternenpfahlannonce: Cellist Oskar (Edin Hasanovic). Der spielt sogar mit bei einem hochnotpeinlichen Pärchen-Abend mit Maike und ihrem Jason, bevor aus der Begegnung mit Helene fast so etwas wie eine Beziehung wird. „Fast so etwas wie“, das passt zu ihr, zu ihrer wilden Phantasie, das passt aber auch dazu, wie Autor Boss diese tragikomischen Geschichten erzählt. Vieles verbleibt im Ungefähren, häufig wird das Publikum Zeuge dessen, was sich die „Heldin“ gerade vorstellt. Dieser notorischen Lügnerin sollte man besser nichts glauben. Vielleicht ist ja sogar ihr Freund eine ihrer Erfindungen?
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In Staffel 2 mischt Helene eine psychiatrische Klinik auf: besser als Knast!
Mehr noch als in der ersten muss man in der zweiten Staffel von „Oh Hell“ auf der Hut sein. Noch sprunghafter erleben wir die Titelfigur, aber auch die wieder schön bunt, luftig und abwechslungsreich in Szene gesetzten Geschichten springen noch aberwitziger, chaotischer und gegen Ende immer rasanter durch Raum und Zeit. Da ist die pubertierende Vierzehnjährige, die jetzt sogar von ihrer besten und einzigen Freundin Maike (Sury Hardt) versetzt wird und sich deshalb für einen Campingurlaub in Frankreich eine Ersatzfamilie (Hinnerk Schönemann, Anneke Kim Sarnau) sucht. Da ist die nach wie vor verpeilte 24-Jährige, deren vermeintliche Persönlichkeitsstörung in einer psychiatrischen Tagesklinik behandelt werden soll. Sie wird dazu gezwungen; die Alternative wäre Gefängnis. Denn Hells Missgeschick aus Folge eins der ersten Staffel ist mittlerweile aufgeflogen: die unachtsam weggeschnippte Zigarettenkippe, durch die der Großteil eines Waldes niederbrannte.
In den neuen Folgen treibt die Anti-Heldin mehrere Männer in den Wahnsinn
Keine Frage, dass Helene Leben in die Anstalt bringt. Der Hauptleidtragende ist der Psychiater Dr. Berg-Berth (Roland Bonjour), ein alter Bekannter aus ihrer Kindheit, den sie zunehmend in die Patienten-Rolle drängt, bis er die Polizei ruft: „Sie ist die Antagonistin des Denkens“, schimpft er, „nehmen Sie diese Struktur-Querulantin fest.“ Leichter gesagt als getan. Denn längst hat Helene in diesem Kuckucksnest das Kommando übernommen. Dabei trifft sie auf Janno (Daniel Noel Fleischmann), einen noch größeren Lebensverweigerer als sie. Bereits in der ersten Folge prophezeit sie dem schweigenden jungen Mann: „Du wirst sterben.“ Zum Ausgleich gibt es auch neues Leben in den acht 30-Minütern: Helenes Mutter bringt Zwillinge zur Welt und heiratet Dr. Pellart. Er ist der zweite Mann, der vor Helene (und davor, was sie mit seinem Nachwuchs anfangen könnte) eine panische Angst entwickelt. Noch für einen weiteren Mann ist Helene ein rotes Tuch: für Maikes Lebenspartner Jason. Es lässt ihn verzweifeln, dass ausgerechnet die größte Loserin auf diesem Planeten mit ihrer „scheiß drauf“-Idee einen Startup-Investor (Eirik Sæther) mehr beeindruckt als er.
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„I don’t give a fuck“: Was tun, wenn die Anti-Haltung plötzlich zum Kult wird?
Ohne sich zu verbiegen, kommt Helene also in der Business-Welt groß raus. Ihr Labbellook weicht einem adretten Managerinnen-Outfit, doch an ihrer Haltung hat sich nichts geändert. Ihr Zwischenfazit: „Ich habe in meinem ganzen Leben darauf hingearbeitet zu verkacken.“ Allerdings sind jetzt aus den null Friends zigtausend Follower geworden – und die Frage lautet nun: Was tun, wenn das „I don’t give a fuck“ zum Kult wird, wenn andere sie plötzlich feiern, wenn Verkacken der „heiße Scheiß“ der Stunde ist? „Der Spaß tropft aus mir heraus“, stellt sie bitter fest. Der Friedhof ist ihr näher als die Party ihr zu Ehren. Auch die in Szene gesetzte Metapher von der Hirtin mit ihren Schafen gefällt ihr auf Dauer nicht. Autor Johannes Boss und Regisseurin Sarah Blaßkiewitz („Druck“, „Sam – Ein Sachse“) machen – je mehr sich Helene ins soziale Miteinander traut (bisher wollte sie nur ihre Ruhe) – allerhand Angebote.
Weitere vier Stunden hintersinnigen Unsinn & das Absurde staunend genießen
Ist Helene ernsthaft psychisch gestört? „Bist du verrückt?“, fragen ihre Ersatzeltern, zwei eher schlichte Gemüter. Ist sie gewollt oder ungewollt subversiv? Helene verkörpere „das Ende des Patriarchats“, schmettert Maike im Beziehungsstreit ihrem Jason entgegen. Eine Folge später, wieder versöhnt, setzen beide, um ihre Existenz zu retten, auf Helenes destruktive Kraft. Möglicherweise aber hat sich die Anti-Heldin verändert: Da ist gegen Ende diese tiefe Traurigkeit, die sie in der ersten Staffel zu verbergen wusste. Was, wenn die Feier des Nichts Menschenleben kostet: Ist auch das scheißegal? Oder stößt Helene dann an die Grenzen ihrer Empathielosigkeit? So oder so, diese Figur ist enigmatischer denn je. Oder gibt es sie vielleicht gar nicht? Immer wieder verschwindet sie. Für den Stiefvater ist sie ohnehin nur ein Geist, ein böser Geist. Was, wenn diese Helene nur eine Vorstellung ist, eine Projektion, die einen von dem Druck, perfekt leben zu müssen, befreit? Vier weitere Stunden in vermeintlicher Sinnlosigkeit zu baden, den absurden Moment zu genießen und den Unsinn staunend zu feiern, das macht auch 2024 wieder höllisch Spaß. In diesem Sinne: „Helene, darf ich furzen?“ … „Nur wenn du Hare Krishna sagst?“